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Was für eine verrückte Idee.

»Ist deine Pistole noch geladen?«, fragte Alica nervös.

Pia nickte zwar, aber die bloße Vorstellung, die Waffe noch einmal benutzen zu sollen, erfüllte sie beinahe mit Entsetzen. Vorhin hatte sie geschossen, weil sie einfach keine andere Wahl mehr gehabt hatte und es um ihr nacktes Leben gegangen war, aber Alica erwartete anscheinend von ihr, dass sie auf die Männer feuerte, während sie näher kamen, und das war ein verdammter Unterschied!

Sie suchte – wider besseres Wissen und selbstverständlich vergebens – noch einmal nach einem Fluchtweg und registrierte beinahe ohne Überraschung, wie sich die beiden Schatten nahezu synchron in Bewegung setzten. Einer der beiden Männer humpelte, aber ihre Schadenfreude hielt sich in Grenzen. Ganz gleich, ob es der war, den sie angeschossen hatte, oder Alicas Opfer, der Anblick zeigte ihr, wie hart die Kerle waren. Vielleicht würde ihr gar nichts anderes übrig bleiben, als einen von ihnen zu erschießen. Oder auch beide.

Wortlos wandte sie sich um, tastete mit der flachen Hand an einer unverputzten Ziegelsteinmauer entlang und blieb erst wieder stehen, als es vor ihnen hell wurde …nun ja, oder wenigstens nicht mehr ganz dunkel war. Graues Zwielicht, das eher wie Nebel wirkte, zeigte ihnen einen jener winzigen Innenhöfe, wie sie für die Gebäude in dieser Gegend typisch waren: ein ungepflegtes Geviert von kaum fünf Schritten Ausdehnung in jede Richtung, schmale Fenster, hinter deren vorgelegten hölzernen Läden nur Dunkelheit war, und eine Metalltür mit einem kaum postkartengroßen, nichtsdestotrotz aber vergitterten Fensterchen in Augenhöhe. Verschwommene Umrisse längs der Wände mochten einfache Bänke oder Stühle sein, auf denen sich die Bewohner dieses Hauses tagsüber niederlassen konnten, und als Alica ihr folgte, stieß ihr Fuß gegen einen Blumenkübel, dessen Palmwedel protestierend raschelten. Alica machte ein angemessen betroffenes Gesicht, aber Pia sah nicht einmal zu ihr hin. Das Geräusch war nicht verräterisch. Die beiden Männer wussten längst, wo sie waren. Irgendetwas sagte ihr, dass sie das die ganze Zeit über gewusst hatten.

Sie ging zur Tür, drückte die Klinke herunter und fand sie erwartungsgemäß abgeschlossen vor. Das Haus dahinter war vollkommen ruhig, und die Stille war so total, dass sie nach einer weiteren Sekunde sogar die Atemzüge der Schlafenden hören konnte. Zwei Erwachsene und – mindestens – zwei Kinder, vielleicht mehr, eines davon noch sehr klein.

Sie trat zurück und sah sich aufmerksam um. Die hölzernen Läden aufzubrechen, sollte kein Problem sein, nicht einmal mit bloßen Händen, aber damit würde sie die Leute im Haus in Gefahr bringen, denn die Männer würden ihnen zweifellos auf demselben Weg folgen. Pia hatte nicht vergessen, was sie mit Esteban gemacht hatten, dessen einzige Verfehlung darin bestanden hatte, im falschen Moment am falschen Ort zu sein.

Ihr Blick huschte an der Wand neben Alica hoch und blieb an der überstehenden Dachkante hängen. Gute zwei Meter. Nicht mehr.

»Schaffst du das?«, fragte sie.

Alicas Blick sagte ganz eindeutig Nein, aber sie gab sich tapfer und nickte. »Wenn du mir die Räuberleiter machst.«

Es war etliche Jahre her, dass sie jemandem geholfen hatte, ein Hindernis auf diese Weise zu überwinden, aber ihnen blieb keine Zeit für lange Diskussionen. Pia lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand, verschränkte die Hände vor dem Schoß und spannte alle Muskeln an, als Alica nach ihren Schultern griff und gleichzeitig den Fuß in ihre Hände setzte. Auf dem ersten Stück ging es unerwartet gut. Alica war leichter, als sie angenommen hatte, und stellte sich sogar einigermaßen geschickt an … aber das galt tatsächlich nur für das erste Stück und war wohl eher ein Versehen. Irgendwie gelang es ihr, mit beiden Füßen festen Halt auf Pias Schultern zu finden, doch damit hörte es dann auch schon auf. Pia wartete darauf, dass ihre Hände irgendwo oben an der Dachkante Halt fanden, und sie sich in die Höhe zog, doch stattdessen begann Alica plötzlich herumzustrampeln, und ihre Füße waren so ziemlich überall, nur nicht dort, wo sie sein sollten.

»Beeil dich, verdammt noch mal«, presste sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Sie sind gleich hier!«

Das half nicht unbedingt. Alica schien zwar endlich irgendwo festen Halt gefunden zu haben und versuchte sich auf das Dach hinaufzuziehen, und zumindest ihr rechter Fuß verschwand von Pias Schulter – um eine Sekunde später in ihrem Gesicht zu landen. Dann kam Alica auf die grandiose Idee, ihr auf den Kopf zu steigen.

Pia hatte genug. Grob packte sie Alicas rechten Fuß, drehte sich herum, streckte die andere Hand nach ihrem Hinterteil aus und versetzte ihr einen Stoß, der sie regelrecht auf das Dach hinauf katapultierte. Alica quietschte protestierend, war aber wenigstens geistesgegenwärtig genug, um sich irgendwo festzuklammern, und Pia federte kurz in den Knien ein und sprang mit ausgestreckten Armen nach oben. Ihre Hände bekamen die morsche Dachrinne zu fassen, und das Wunder, auf das sie selbst kaum zu hoffen gewagt hatte, geschah: Die Kupferrinne ließ ein bedrohliches Ächzen und Knirschen hören und bog sich ein gutes Stück unter ihrem Gewicht durch, aber sie hielt. Mit den nackten Zehen an der Ziegelsteinmauer Halt suchend, zog sich Pia weiter in die Höhe und zwei schwere Herzschläge später neben Alica auf das Dach hinauf.

»Na, hat’s Spaß gemacht?«, grollte Alica.

»Was?«

»Meinen Hintern zu betatschen. Ich meine, du bist zwar wirklich süß, aber deine Hand da unten …«

Pia hatte nicht übel Lust, mit ihrer Hand noch etwas ganz anderes zu tun, doch sie beherrschte sich, stemmte sich stattdessen auf Hände und Knie hoch und kroch ein Stück von der Dachkante weg, bevor sie sich ganz aufrichtete. Das Dach verlief vor ihnen noch zwei oder drei Meter in gemäßigter Schräge, bevor es in eine weitere, senkrechte Wand überging und sich ein Stockwerk höher fortsetzte. Wenn sie es bis dorthin schafften, hatten sie eine gute Chance.

Sie würdigte Alica keines Wortes, sondern ging los und registrierte erleichtert, dass jemand so freundlich gewesen war, Steigeisen in die Wand einzulassen. Wahrscheinlich hatte es in der unter ihnen auch welche gegeben, und sie hatten sie bei der herrschenden Dunkelheit bloß nicht gesehen.

Vorsichtshalber kletterte Pia diesmal als Erste hinauf. Das Dach, auf das sie gelangte, war flach und mit zerrissener zäher Pappe gedeckt, die so oft in der Sonnenhitze geschmolzen und wieder erstarrt war, dass sie wie ein schwarzer Sumpf aussah, und sich auch so anfühlte. Jede ihrer Bewegungen verursachte schmatzende Geräusche und ein unangenehmes Ziehen auf der Haut, als sie sich auf den Bauch sinken ließ und dann rasch herumdrehte, um nach Alica zu sehen.

Diese überraschte sie schon wieder, denn sie folgte ihr dichtauf und mit solchem Geschick, dass Pia der böse Verdacht kam, ihre vermeintliche Unbeholfenheit gerade eben sei möglicherweise nur gespielt gewesen. Vielleicht fand Alica das Ganze hier ja irgendwie lustig. Pia griff trotzdem zu, um ihr auf dem letzten Stück zu helfen, zog sie zu sich herauf und aus der gleichen Bewegung heraus nach unten.

»Igitt!«, nörgelte Alica. »Was ist denn das für ein klebriges Zeugs?«

»Still!«, sagte Pia erschrocken. »Und rühr dich nicht!«

Alica sah schon wieder ein bisschen beleidigt aus, aber sie gehorchte immerhin. Nebeneinander flach auf dem Bauch liegend, sahen sie in die Dunkelheit hinunter.

Sie mussten nicht lange warten. Es verging weniger als eine Minute, bis eine Gestalt unter ihnen im Innenhof auftauchte. Sie war nur als flacher Schatten zu erkennen, aber an ihrer Hüfte schimmerte Metall, und Pia meinte so etwas wie einen schwachen Geruch nach Blut aufzufangen. Das musste der Bursche sein, dem sie in die Schulter geschossen hatte. So wie er sich bewegte, schien ihm die Verletzung nicht allzu viel auszumachen und ihn schon gar nicht zu behindern. Er stand einen Moment lang vollkommen reglos da, dann drehte er sich um, legte den Kopf in den Nacken und sah zu ihnen hoch.

Das ist vollkommen unmöglich!, dachte Pia hysterisch. Er hatte nicht einmal nach ihnen gesucht, sondern sah so direkt zu Alica und ihr hoch, als hätte er ganz genau gewusst, wo sie waren!