»Donnerwetter«, keuchte Alica. »Das war … saubere Arbeit. Das mit … Supergirl nehme ich … zurück. Die hätte wahrscheinlich Angst vor … dir.«
Pia vergeudete nicht einmal einen Atemzug, um ihr zu antworten, sondern richtete sich mühsam auf und sah hinter sich. Der Kerl lag noch immer am Boden und krümmte sich. Augenscheinlich machte ihm der Tritt deutlich mehr zu schaffen als die Kugel, die sie ihm vorhin verpasst hatte. Ihr Knie jedenfalls fühlte sich an, als hätte sie gegen Beton geschlagen. Auch von dem zweiten Verfolger war im Moment nichts zu sehen. Pia hoffte inständig, dass er immer noch fünf Meter tiefer im Hof lag und seine Knochen sortierte.
»Bleibt nur noch einer«, stieß sie kurzatmig hervor.
Alica blinzelte. »Wie?«
»Sie waren zu dritt, schon vergessen?« Pia wollte in diesem Moment nichts mehr, als sich irgendwohin zu setzen und auszuruhen, und sei es nur einige wenige Sekunden, doch stattdessen machte sie eine müde Geste in die Dunkelheit hinein. »Los! Weiter! Vielleicht können wir sie ja irgendwie abschütteln.«
»So ganz allmählich wirst du mir unheimlich«, murmelte Alica, »weißt du das?« Trotzdem drehte sie sich gehorsam um und ging los, und auf den ersten Schritten war es Pia, die ihr folgte, und nicht umgekehrt. Ihr war immer noch kalt.
Offensichtlich war sie nicht die Einzige, die fror. Alica hatte eine deutliche Gänsehaut, und ihr Atem wehte als grauer Dampf vor ihrem Gesicht.
Und dann fiel Pia etwas auf, das noch sehr viel merkwürdiger war: Es war viel zu hell.
Die Nacht war nach wie vor mondlos, und der Himmel verbarg sich hinter einer geschlossenen Wolkendecke, aber die Dächer reflektierten das blasse Licht, als wären sie weiß lackiert, und diese Dächer selbst …
Es ging viel zu schnell, als dass sie auch nur eine Chance gehabt hätte zu reagieren. Alica war plötzlich weg, ebenso lautlos und jäh verschwunden wie der Barbar gerade, und im nächsten Moment gab der Boden unter Pias Füßen nach. Ganz instinktiv streckte sie die Hände aus und bekam auch tatsächlich irgendetwas zu fassen, aber es war nicht annähernd stabil genug, um sich daran festzuhalten.
Sie fiel, wenn auch nicht sehr tief. Dunkelheit hüllte sie ein, die seltsamerweise nach Stroh roch; sie hörte Alica schreien, dann schlug sie irgendwo auf.
Der Aufprall war unerwartet weich. Nicht so kalt wie das letzte Mal, als sie etwas ganz Ähnliches erlebt hatte, und deutlich sanfter, als wäre sie auf einen Heuboden gestürzt. Passend dazu kribbelte etwas in ihrer Nase und in ihrem Gesicht, und sie musste niesen.
Erst danach öffnete Pia die Augen, sah nichts als Schatten rings um sich und legte den Kopf in den Nacken. Über ihnen (unangenehm weit über ihnen, mindestens drei oder vier Meter, schätzte sie) gähnte ein unregelmäßig geformtes Loch im Dach, über dem der seltsamste Nachthimmel zu sehen war, den sie jemals erblickt hatte. Eigentlich war er nicht wirklich zu sehen, denn er war zur Gänze mit bauchigen Wolken zugezogen, die niedrig genug zu hängen schienen, um sie mit dem ausgestreckten Arm zu berühren. Und sie waren weiß. Nicht schmutzig grau, als Wolken verkleideter Smog, wie sie es gewohnt war, solange sie sich zurückerinnern konnte, sondern weiß; von einer so strahlenden, reinen Farbe, wie Pia sie noch nie zuvor am Himmel gesehen hatte.
Neben ihr erscholl ein halb ersticktes Husten, dann raschelte es und dann hörte sie Alicas zornige Stimme: »Na, wunderbar! Das hast du wirklich sauber hingekriegt! Vielen herzlichen Dank auch!«
Statt zu antworten, was ohnehin völlig sinnlos gewesen wäre, richtete sich Pia weiter auf, versuchte sich das kribbelnde Zeug aus dem Gesicht zu wischen (es war tatsächlich Stroh) und schloss für ein paar Sekunden die Augen, um sich an die fast vollkommene Dunkelheit zu gewöhnen, die sie umgab.
Es funktionierte. Sie konnte jetzt immerhin erkennen, dass sie sich in einem sehr großen Raum befanden, der tatsächlich verblüffende Ähnlichkeit mit einem Heuboden hatte. Über ihnen ragte ein spitzer, aus schweren Balken gezimmerter Dachstuhl in die Höhe, und was ihrem Sturz die möglicherweise tödliche Wucht genommen hatte, das war wirklich eine dicke Schicht aus würzig riechendem Stroh, bestimmt einen Meter hoch. Irgendetwas raschelte, und als Pia erschrocken den Kopf drehte, sah sie einen Schatten mit einem langen nackten Schwanz davonhuschen.
»Igitt!«, sagte Alica. »Eine Ratte!«
Pia hoffte, dass es nur eine Ratte gewesen war.
»Wo zum Teufel sind wir eigentlich?«, schimpfte Alica. »Weißt du, wohin du uns geführt hast?«
»Ich weiß, wohin dieses Gespräch führt, wenn du nicht gleich die Klappe hältst«, sagte Pia ruhig.
Alica fauchte irgendeine Antwort, die Pia lieber nicht verstehen wollte, setzte sich mit einem lautstarken Rumoren auf … und ließ zu Pias absolutem Entsetzen ihr Zippo aufflammen!
Pia reagierte beinahe noch schneller als gerade beim Auftauchen des Barbaren, und diesmal war es auch gar nicht nötig zu denken. Mit einer entsetzten Bewegung schnellte sie herum, riss Alica das Feuerzeug aus der Hand und klappte es zu, und für die nächsten Sekunden hatte sie alle Hände voll damit zu tun, das gute Dutzend Funken (und auch die eine oder andere Flamme) mit eben diesen bloßen Händen auszuschlagen, die rings um Alica und sie herum im Stroh glommen.
»He!«, protestierte Alica. »So sehe ich nichts!«
»Was glaubst du, wie gut du erst siehst, wenn der ganze Laden hier in Flammen steht?«, fauchte Pia.
»In Flammen?«
»Das hier ist Stroh!«, sagte Pia. »Trockenes Stroh!«
»Oh«, murmelte Alica.
»Ja, oh.« Pia setzte dazu an, das Feuerzeug einzustecken, überlegte es sich dann aber anders und gab es ihr zurück.
»Wieso liegt hier überhaupt Stroh herum?«, maulte Alica. »Und was ist das eigentlich hier, verdammt noch mal?«
Pia antwortete nicht sofort, sondern investierte die komplette nächste Minute, um jeden Quadratzentimeter rings um sie herum nach einem übersehenen Funken oder einem schwelenden Glutnest abzusuchen. Sie fand nichts. Wie es aussah, hatten sie noch einmal Glück gehabt.
Sie sagte auch danach nichts, sondern schenkte Alica nur einen bösen Blick (den diese in der Dunkelheit hier drinnen sowieso nicht sah), stand auf und versuchte sich zu orientieren. Abgesehen von den monströsen Balken und jeder Menge Stroh schien der Raum vollkommen leer zu sein. In der gegenüberliegenden Wand gab es etwas wie eine Tür. Pia ging hin, blieb zwei oder drei Schritte davor stehen und legte überrascht die Stirn in Falten.
An der Tür war eigentlich nichts Außergewöhnliches – oder wäre nichts gewesen, hätte sie sich in einem alten Schloss irgendwo in England befunden. Hier wirkte sie ziemlich deplatziert. Sie war gerade einmal anderthalb Meter hoch, aber fast genauso breit, bestand aus groben, unbehandelten Brettern und hatte schwere schmiedeeiserne Beschläge. Es gab weder einen Riegel noch eine Klinke, nur einen einfachen Holzklotz, und kein Schloss. Pia zögerte, sie zu öffnen, und bevor sie es tat, legte sie das Ohr gegen die Tür und lauschte. Sie registrierte Geräusche, ohne sie identifizieren zu können, zog die Tür schließlich mit einem unguten Gefühl auf, und ein Schwall unterschiedlicher Laute und verwirrender Gerüche drang zu ihnen herein. Blasses, flackerndes rotes und gelbes Licht und gemurmelte Stimmen. Pia winkte Alica zu sich und bedeutete ihr zugleich, leise zu sein.
»Was zum Geier ist denn das?«, entfuhr es Alica.
Natürlich viel zu laut, aber dieselbe Frage stellte Pia sich auch. Vor ihnen lag eine schmale, steil in die Tiefe führende Holztreppe. Grob verputzte Wände und eine niedrige Strohdecke vervollständigten das Gefühl, sich in einer Scheune zu befinden; das Allerunmöglichste jedoch war die Länge der Treppe. Schon der Heuboden, in den sie gestürzt waren, war eigentlich höher gewesen als das ganze Haus, über dessen Dach sie geflüchtet waren, und die Treppe führte noch einmal mindestens drei oder vier Meter weit nach unten. Was war hier los?