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Pia wiederholte ihre mahnende Geste und schlich auf Zehenspitzen los, um möglichst wenige Geräusche zu verursachen, aber die ausgetretenen Holzstufen machten ihr einen Strich durch die Rechnung. Sie knarrten und knirschten so erbärmlich unter ihrem Gewicht, dass der Besitzer dieses Gebäudes ganz bestimmt keine Alarmanlage brauchte. Pia sah es zwar nicht, aber sie konnte Alicas breites Grinsen in der Dunkelheit neben sich spüren.

Die Treppe hielt noch eine weitere Überraschung für sie bereit. Sie endete nach einem guten Dutzend Stufen an einem Absatz, neben dem sich ein lang gestreckter Gang auftat, zu dunkel, um Einzelheiten zu erkennen, aber Pia meinte dennoch, etliche Türen in den Wänden rechts und links auszumachen. Vor ihnen führte die Treppe noch ein weiteres Stockwerk in die Tiefe. Der flackernde Lichtschein und die Geräusche murmelnder Stimmen wurden deutlicher. Ein Keller, dachte sie. Sie befanden sich in einem Keller. So einfach war das.

Und natürlich so falsch. Diese Erklärung hatte ungefähr so viele Löcher wie ein Fischernetz, aber sie war immer noch besser als alles andere, was ihr einfiel.

Sie überlegte kurz, eine der Türen vor sich auszuprobieren, besann sich dann eines Besseren und setzte ihren Weg die Treppe hinunter fort. Die Stufen quietschten hier nicht mehr so erbärmlich wie weiter oben, und Pia glaubte im allerersten Moment, es läge einfach daran, dass sich dieser Teil der Treppe in einem besseren Zustand befand als der obere. Dann trat auch Alica auf die Treppe, und das Knarren und Quaken musste noch bis ans andere Ende der Stadt zu hören sein, und Pia wurde klar, dass es an ihr gelegen hatte. Sie hatte ihre Art zu gehen ganz instinktiv dieser verdammten Treppe angepasst, um möglichst leise zu sein.

Sie stellte sich noch einmal dieselbe Frage wie gerade eben, aber diesmal wurde sie von einem intensiven Gefühl der Angst begleitet: Was geschah hier?

Was geschah mit ihr?

VII

Der Kerzenschein wurde heller, und auch das Geräusch der Stimmen nahm zu. Pia konnte die Worte nicht verstehen, aber der Ton der Unterhaltung schien eher freundlich zu sein, und so ausgelassen und redselig, wie es angesichts der fortgeschrittenen Stunde zu erwarten gewesen war. Jetzt identifizierte sie auch den Geruch. Essen. Es roch nach Braten und frisch gebackenem Brot. Der Geruch ließ ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen und erinnerte sie daran, dass sie seit nunmehr fast vierundzwanzig Stunden nichts mehr gegessen hatte. Was zum Teufel war das hier?, fragte sie sich zum wiederholten Mal. So eine Art unterirdisches Gasthaus für Nachtschwärmer?

Zumindest ein Teil dieser Vermutung stellte sich als zutreffend heraus, als sie das Ende der Treppe erreichte und so abrupt stehen blieb, dass Alica leicht gegen sie prallte.

Vor ihnen erstreckte sich ein weitläufiger, allerdings sehr niedriger Raum, dessen Decke von schweren Balken gestützt wurde. Fußboden und Wände bestanden ebenfalls aus Holz, und dasselbe galt für die Möbel; schwere, grob gezimmerte Tische und Hocker, die ohne sichtbares System, aber in großer Anzahl hier drinnen verteilt waren. Auf der anderen Seite des Raumes gab es etwas wie eine schlampig zusammengeschusterte Theke, die im Grunde nur aus drei bauchigen Fässern bestand, über die zwei Bretter gelegt worden waren. Ein gewaltiger Kamin, dessen prasselnde Flammen eindeutig mehr Ruß als Wärme und Licht verbreiteten, vervollständigte den Eindruck, sich in eine Kneipe verirrt zu haben, in der sich normalerweise nur Fantasy- und Mittelalter-Freaks trafen. Ein gutes Dutzend Kerzen versuchte vergebens, das dämmerige Halbdunkel zu vertreiben, das wie Nebel in der Luft hing. Und dann waren da die drei Männer, die an einem der niedrigen Tische saßen, sie anstarrten und von ihrem plötzlichen Auftauchen mindestens ebenso überrascht waren wie umgekehrt Pia von ihrem Anblick.

Alle drei waren fortgeschrittenen Alters, auch wenn Gesicht und Haarfarbe bei zwei von ihnen schwer zu erkennen waren, denn sie starrten vor Dreck. Der (etwas) sauberere hatte eine von schulterlangem grauem Haar eingerahmte Halbglatze, wog mindestens drei Zentner und trug schmutzstarrende Wildlederhosen, Schnürsandalen (ohne Socken) und eine speckige Weste über einem Rüschenhemd, das irgendwann zur Zeit der Dinosaurier einmal weiß gewesen sein mochte. Sein Gesicht glänzte mit seiner Weste um die Wette, und als er endlich seine Überraschung überwand und aufstand, schien er eher kleiner zu werden. Er reichte Pia allerhöchstens bis zum Kinn, war aber mindestens so fett sie Esteban.

»Wo bei Kronn kommt ihr denn her?«, polterte er.

»Hä?«, machte Alica.

Pia bedeutete ihr mit einer erschrockenen Geste, still zu sein, atmete tief ein und versuchte, die Augen vor allen Unmöglichkeiten zu verschließen, die dieser Raum für sie bereithielt, und sich ganz auf den Fettwanst zu konzentrieren. Er sah ziemlich verärgert aus und zugleich nicht so, als würde er viel Spaß verstehen.

So ruhig, wie sie es gerade noch konnte, deutete sie mit einer Kopfbewegung die Treppe hinauf. »Von dort«, sagte sie. »Aber es ist nicht so, wie es …«

»Das sehe ich«, unterbrach sie der Dicke. Er kam mit kleinen, trippelnden Schritten näher, blieb keine zwei Meter vor ihnen stehen und stemmte die Fäuste in die wabbelnden Fettwülste, die seine Hüften verschlungen hatten. Ein bisschen erinnerte er sie sogar an Esteban, dachte Pia – wenn der ganz besonders schlechter Laune war.

»Raus mit der Sprache! Wer hat euch eingeschmuggelt? Teroc? Brasil?«

»Was brabbelt der Kerl da?«, fragte Alica.

Pia machte eine neuerliche, noch erschrockenere Geste und bemühte sich um ein angemessen verlegenes Lächeln in Richtung des Dicken. »Ich fürchte, diese Namen sagen uns nichts«, sagte sie betont. »Und es ist auch … ähm … ganz anders, als Sie vielleicht glauben.«

»Pia?«, murmelte Alica. Sie klang ein bisschen verwirrt.

Pia ignorierte sie.

»Ach, ist es das?«, fragte der Fettsack. »Ja, darauf wette ich! Wenn Teroc euch eingeschmuggelt hat, könnt ihr ihm sagen, dass er gleich zusammen mit euch auf die Straße fliegt! Ich dulde solche wie euch hier nicht. Das ist ein anständiges Haus!«

Solche wie euch. Pia wiederholte die Worte in Gedanken ein paarmal, aber es gelang ihr nicht, ihnen auch nur das winzigste bisschen von ihrem abfälligen Klang zu nehmen. Es war derselbe Ausdruck, den sie auch in den Augen des Dicken las, nur um etliches stärker. Da waren vor allem Verachtung und Zorn und – vielleicht – eine Spur von Neugier, und dann, als er den Blick von ihrem Gesicht löste und in das Alicas sah, möglicherweise so etwas wie sachte Verwirrung. Sein Gesicht verfinsterte sich allerdings nur umso mehr.

»Es ist wirklich ein bisschen anders, als es den Anschein hat«, sagte sie vorsichtig. »Ich meine: Ich weiß, das klingt jetzt wahrscheinlich komisch, aber eigentlich wollten wir gar nicht hierher. Und wir wollten Sie auch bestimmt nicht stören.« Wobei auch immer.

»Ja, darauf wette ich«, sagte der Dicke böse. »Und was bei Kronn wollt ihr dann?«

»Schmeichiebeidenrauschunkommwiedaher, Brasch«, lallte einer der beiden anderen Zecher. Er versuchte aufzustehen, stolperte über seine eigenen Füße und fiel der Länge nach hin. Sein Begleiter, ganz offensichtlich genauso betrunken wie er, aber immerhin klug genug, weder etwas sagen oder gar aufstehen zu wollen, starrte sie aus blutunterlaufenen Augen an. Er war genauso verdreckt und abgerissen gekleidet wie der Dicke, und er trug etwas am Gürtel, das verdammte Ähnlichkeit mit einem Schwert hatte.

»Pia, was … was tust du da?«, fragte Alica nervös.

»Ich versuche unsere Hälse zu retten«, antwortete Pia verärgert, sah aber nicht zu ihr zurück, sondern starrte weiter Brasch an, um seinen Blick festzuhalten.

»Ich warte«, grollte der Fettsack.

»Also, wie gesagt, die Geschichte ist ein bisschen … ähm …kompliziert«, begann sie von Neuem. »Wir sind … also, wir wollten eigentlich gar nicht hierher, und genau genommen …«