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»Ihr sagt mir jetzt auf der Stelle, wer euch mitgebracht hat, oder ich schmeiße die Kerle beide raus«, unterbrach sie Brasch. »Und euch beide überlasse ich der Wache, und ihr verbringt den Rest der Nacht im Karzer. Ihr wisst doch, dass ihr hier nichts zu suchen habt. Werdet ihr denn nie schlau?«

Karzer? Pia schwieg eine geschlagene Sekunde. Hatte er gerade Karzer gesagt? Sie ließ noch eine Sekunde verstreichen, in der sie darauf wartete, dass es hinter ihrer Stirn klick machte und sie sich ihres Irrtums bewusst wurde, aber das geschah nicht. Brasch starrte sie nur weiter finster an.

»Es ist eure Entscheidung«, sagte er.

»Bitte, Brasch«, sagte Pia. »Ich weiß ja, dass …«

»Ich heiße Brack«, schnappte der Fettsack und warf dem Betrunkenen, der mittlerweile auf dem Fußboden eingeschlafen war und lautstark zu schnarchen begonnen hatte, einen zornigen Blick zu. »Und ich bin ein gutmütiger Mann, der nicht umsonst für seine Geduld und seine Großzügigkeit bekannt ist, aber wenn du jetzt nicht bald den Mund aufmachst, Mädchen, dann rufe ich tatsächlich die Wache. Du weißt doch, wie sie mit solchen wie euch im Karzer umgehen. Willst du das wirklich? Und wenn es dir schon egal ist, dann denk wenigstens an deine Freundin! Der macht das ganz bestimmt keinen Spaß!«

Pia wollte lieber gar nicht darüber nachdenken, was er mit dieser beunruhigenden Bemerkung genau meinte. Sie zählte in Gedanken langsam bis drei, atmete tief ein und setzte noch einmal und mit sehr ruhiger Stimme an: »Es tut mir wirklich leid, Brack. Ich kenne keinen Teroc, und Alica auch nicht, und den anderen Namen haben wir auch noch nie gehört. Ich kann Ihnen nicht erklären, wie wir hierhergekommen sind. Es ist eine … ziemlich komplizierte Geschichte, und wir möchten Sie bestimmt nicht mit hineinziehen, schon in Ihrem eigenen Interesse. Ich schlage vor, Alica und ich entschuldigen uns einfach in aller Form bei Ihnen und gehen, und nichts ist passiert.« Sie bewegte sich wie zufällig so, dass ihre Bluse aufklappte und der Griff der verchromten Pistole sichtbar wurde, die sie darunter im Hosenbund trug. Brack entging das keineswegs, aber er sah allerhöchstens ein bisschen interessiert aus, nicht im Geringsten erschrocken.

»Gehen?«, wiederholte er. »Und … wohin?«

Pia zögerte einen winzigen Moment, in dem sie einen nervösen Blick auf die eigentlich allergrößte Unmöglichkeit von allen hier warf: Die Dunkelheit draußen hatte sie zwar in schwarze Spiegel verwandelt, aber es waren ganz eindeutig Fenster … mindestens zehn Meter unter der Erde?

»Dorthin?«

Brack riss die Augen auf. »Nach draußen? Ihr zwei? Zu dieser Stunde?«

»Was spricht dagegen?« Pia ließ ihre Hand demonstrativ über den Pistolengriff streichen und schloss ihre Bluse dann wieder. Brack wirkte immer noch nicht im Mindesten beeindruckt, aber jetzt gleichermaßen verwirrt wie auch ein bisschen amüsiert. »Ganz, wie du meinst, Kleine.« Er trat demonstrativ zurück und machte eine einladende Geste auf die Tür.

Pia wollte mittlerweile nur noch aus diesem Irrenhaus raus, und das so schnell wie möglich. Sie nickte nervös, bedeutete Alica mit einer wortlosen Geste, ihr zu folgen, und ging los. Brack grinste breit, aber sein Grinsen entgleiste mit jedem Schritt mehr, den sie sich der Tür näherten. Ganz offensichtlich rechnete er nicht damit, dass sie tatsächlich gingen. Seine beiden Gäste anscheinend auch nicht – zumindest der, der noch nicht eingeschlafen war. Seine Augen wurden groß, während sie sich der Tür näherten.

»Kannst du mir vielleicht sagen, was das gerade war?«, fragte Alica. »Ich meine: Ich muss ja vielleicht nicht alles wissen, Gott bewahre, aber …«

»Da hast du vollkommen recht«, fiel ihr Pia ins Wort. »Du musst wirklich nicht alles wissen. Und was du wissen musst, das erkläre ich dir, sobald …«

… sie ihre Sprache wiedergefunden hatte.

Sie hatte die Tür – mit erstaunlichem Kraftaufwand – aufgeschoben und war ins Freie und ganz automatisch einen Schritt weit auf die Straße hinausgetreten, und erst dann begriff Pia wirklich, was sie da sah. Oder auch nicht.

Alica trat hinter ihr aus dem Haus und stieß ein fast komisch klingendes Japsen aus. Pia ließ den schweren schmiedeeisernen Türgriff los, und die Tür fiel mit einem dumpfen Geräusch hinter ihnen zu. Nicht, dass sie es auch nur gehört hätten.

Pia schätzte, dass sie mindestens eine Minute lang nebeneinander gestanden haben mussten, vollkommen reglos und möglicherweise sogar ohne zu atmen, bevor Alica das Schweigen endlich brach.

»Wo … wo ist die … wo ist die Stadt geblieben?«

Pia sagte nichts. Wie auch? Außerdem war die Stadt noch da. Nur dass es nicht mehr die Favelas waren. Es war nicht einmal mehr Rio de Janeiro.

Vor ihnen erstreckte sich eine breite, schlammige Straße, die garantiert noch nie so etwas wie ein Pflaster gesehen hatte. Flankiert wurde sie von den sonderbarsten Häusern, die Pia jemals zu Gesicht bekommen hatte. Fast alle waren größer als die in den Favelas üblichen Gebäude, zwei-, manche dreigeschossig, wirkten aber sonderbar gedrungen, als wäre ein Riese über sie hinweg gelaufen und hätte sie allesamt zusammengestaucht, ohne sie dabei zu beschädigen, und sie waren ausnahmslos mit demselben Stroh gedeckt, durch das Alica und sie gerade so unsanft gefallen waren. Nirgendwo brannte Licht, weder in den Häusern noch auf den Straßen (es gab keine Straßenlaternen, wie sie fast beiläufig registrierte), und es war schon beinahe unheimlich still.

Zudem war alles voller Schnee.

Pia blickte fassungslos auf die einzelne weiße Flocke, die wie in Zeitlupe an ihrem Gesicht vorüberschwebte und dann einfach verschwand, als sie in den grauen Dunst ihres Atems geriet. Erst dann spürte sie die bittere Kälte, die hier draußen herrschte. Ihre nackten Füße fühlten sich an, als stünde sie auf blankem Eis, und als sie an sich hinabsah, stellte sie fest, dass ganz genau das auch der Fall war. Es gab keinen Bürgersteig. Der Morast der Straße setzte sich übergangslos bis zum Haus fort, und er war halb gefroren und mit blitzenden Eisscherben gespickt.

»Pia«, sagte Alica mit leiser, übermäßig betonter Stimme. »Wo sind wir hier?«

»Ich habe nicht die geringste Ahnung«, flüsterte Pia. Vielleicht dachte sie es auch nur. Auf jeden Fall war es die Wahrheit. Einen Ort wie diesen hatte sie noch nie zuvor gesehen, außer auf alten Bildern und in Filmen. Sie hatte nicht einmal gewusst, dass es einen Ort wie diesen überhaupt gab.

Die Straßenlaternen waren nicht das Einzige, was fehlte. Es gab auch keine Satellitenschüsseln, Antennen, Strom- oder sonstige Leitungen, keine Briefkästen oder Hydranten und keines der tausend anderen Dinge, die sich so unauffällig in das Straßenbild jeder modernen Stadt (selbst der etwas zivilisierteren Bereiche der Favelas) gemogelt hatten, dass man sie eigentlich überhaupt erst registrierte – oder gerade eben nicht –, wenn sie nicht mehr da waren. Hier gab es nur Häuser.

Und damit es richtig spaßig wurde, Häuser, die aussahen, als hätte sie jemand direkt aus dem frühen Mittelalter hierhergeholt. Weit hinter den schneegepuderten spitzen Strohdächern glaubte sie eine gleichmäßig gezahnte Schattenlinie zu erkennen – eine zinnenbewehrte Stadtmauer?

»Ich träume«, murmelte Alica. »Das … das alles träume ich doch nur, oder? Sind wir im Gruselkabinett gelandet oder in einer Filmkulisse?«

Pia setzte zu einer Antwort an, doch in diesem Moment drang ein gedämpftes, trotzdem aber unverkennbar metallenes Geräusch an ihr Ohr, und nahezu gleichzeitig brach sich ein verirrter Lichtstrahl aus Silber am Ende der Straße. Das war alles, was sie sah, aber ganz leise hörte sie auch schwere Schritte, und sie musste plötzlich wieder an Bracks sonderbare Worte von gerade denken. Es war nur ein Gefühl. Aber ein sehr, sehr schlechtes.

»Weg hier«, flüsterte sie. »Schnell.«

Alica sah sie nur verwirrt an, und Pia tat das Einzige, was ihr spontan einfiel – sie machte auf dem Absatz kehrt, drückte die Klinke herunter und zog Alica mit sich zurück ins Gasthaus.