»Ich mache euch einen Vorschlag«, sagte Brack. »Warum bleibt ihr nicht für den Rest der Nacht hier, und morgen bereden wir alles in Ruhe. Wie es aussieht, scheint ihr wirklich Probleme zu haben. Vielleicht kann ich euch helfen. Aber dazu brauchen wir alle einen klaren Kopf. Und du und deine Freundin seht recht müde aus, wenn du mir die Bemerkung gestattest.«
»Morgen?«, wiederholte Pia.
»Ihr könnt hierbleiben«, sagte Brack. »Die Hälfte der Zimmer steht sowieso leer. Ihr könnt das gleich oben bei der Treppe haben. Es hat ein großes Bett und ist warm.«
»Einfach so?«, erkundigte sich Pia. Nach allem, was sie bisher hier erlebt hatte, stimmte sie Bracks plötzliche Großzügigkeit misstrauisch. »Aber wir haben kein Geld. Wir können nicht für die Unterkunft bezahlen.«
»Ach was«, sagte Brack großmütig. »Mach dir darum keine Sorgen, Gaylen. Wir werden uns schon einig.«
Und ganz genau das war es, worum sich Pia plötzlich Sorgen machte.
VIII
Wahrscheinlich war am nächsten Morgen niemand überraschter als sie selbst, das Kitzeln von Sonnenlicht im Gesicht zu fühlen und sich in einem breiten und überaus bequemen Bett wiederzufinden. Es war aus Holz und sichtbar alt, aber in sehr gutem Zustand. Vier schwere gedrechselte Säulen trugen einen ebenfalls hölzernen Baldachin, der mit kunstvollen Schnitzereien übersät und mit goldenen Bordüren und Troddeln verziert war. Die Bettwäsche war ein wenig rau und roch auch nicht mehr ganz frisch, und Kissen und Decke knisterten, als sie sich bewegte, und schienen mit Stroh gefüllt zu sein. Vorsichtig drehte sie den Kopf und blickte in Alicas Gesicht. Die Schminke war verlaufen, und es wirkte teigig und ein bisschen aufgedunsen.
Also hatte sie doch nicht geträumt. Und wenn, dann schlecht.
Pia war immer noch nicht ganz sicher, was sie von dieser Erkenntnis halten sollte, und sie hätte am liebsten die Augen geschlossen und weitergeschlafen, um es später noch einmal zu versuchen. Vielleicht wachte sie das nächste Mal ja wirklich auf.
Unglückseligerweise funktionierte es nicht. Das Sonnenlicht, das durch die schmalen Fenster hereinfiel – und selbstverständlich so gezielt wie ein Laserspot in einer Diskothek genau in ihr Gesicht hämmerte –, bestand darauf, dass es heller Tag war, und das Bier vom vergangenen Abend machte sich bemerkbar. Widerwillig schlug sie die Augen zum zweiten Mal auf, fand sich noch immer in derselben und nach wie vor unmöglichen Umgebung wieder und schlug die raschelnde Decke zur Seite. Alica grunzte im Schlaf, drehte sich auf die andere Seite und begann lautstark zu schnarchen, und Pia sah sich ohne große Hoffnung im Zimmer um. Genau wie Brack behauptet hatte, war es groß und in einigermaßen sauberem Zustand, dennoch aber Lichtjahre von einem Vier-Sterne-All-inclusive-Hotel entfernt. Kein Satellitenfernsehen, keine Minibar. Und auch kein Bad.
Achselzuckend verließ sie das Zimmer, bedachte die anderen Türen auf dem Flur mit einem nachdenklichen Blick und schlurfte dann mit hängenden Schultern die Treppe hinunter. Geschäftige Geräusche und ein schrecklich unmelodisches Pfeifen zeigten ihr, dass sie nicht die Erste war, die die Sonne an diesem Morgen geweckt hatte. Brack stand hinter seiner improvisierten Theke, die bei Tageslicht betrachtet noch viel improvisierter aussah, tat irgendetwas mit dem Besteck, mit dem sie gestern Abend gegessen hatten, und zog überrascht die Augenbrauen hoch, als er sie erblickte.
»Holla!«, sagte er aufgeräumt. Wenn sie bedachte, dass es deutlich nach drei gewesen sein musste, als Alica und sie endlich nach oben gewankt waren, war er von geradezu unverschämt guter Laune. »Du bist ja schon wach.«
»Alica hat gestern Abend versucht, deine Biervorräte auszutrinken«, erinnerte Pia. »Nicht ich. Außerdem … also, ich suche …«
»Gleich hinter dem Haus.« Brack machte eine Kopfbewegung hinter sich. »Kannst es gar nicht verfehlen. Geh einfach dem Geruch nach.«
Pia lachte unecht und schlurfte an ihm vorbei, und wie sich zeigte, hatte Brack ganz und gar nicht gescherzt. Fünf Minuten später und mit einer radikal veränderten Einstellung zu den Segnungen der technischen Zivilisation – vor allem, was moderne Hygieneeinrichtungen anging – kehrte sie in ihr Zimmer zurück und versetzte dem Bett einen wuchtigen Tritt, der das uralte Möbelstück nicht nur protestierend in allen Fugen ächzen, sondern auch Alicas Kopf mit einem Ruck in die Höhe schießen ließ.
»He!«, beschwerte sie sich. »Was fällt dir …« Sie zog eine Grimasse, setzte sich sehr viel vorsichtiger ganz auf und betastete beide Schläfen mit den Fingerspitzen.
»Kopfschmerzen?«, fragte Pia scheinheilig.
Alica schenkte ihr einen bösen Blick und schauderte übertrieben, als ihre nackten Fußsohlen den Boden berührten. Brack hatte zwar behauptet, dass das Zimmer warm sei, aber das bezog sich offenbar nicht auf den Fußboden.
»Wo ist denn hier …?«, begann Alica.
»Treppe runter«, sagte Pia. »Hinter der Theke und dann immer der Nase nach.«
Alica zog eine Grimasse, aber sie sparte sich jeden Kommentar und schlich wortlos aus dem Zimmer, und Pia wandte sich mit einem lautlosen Seufzen ab, um ans Fenster zu treten. Es war kaum so breit wie zwei nebeneinandergelegte Hände, aber sehr hoch, und was sie ganz automatisch für Glas gehalten hatte, stellte sich bei genauerem Hinsehen als eine Art durchsichtiges, aber recht stabiles Papier heraus. Der Anblick dahinter war keinen Deut weniger gespenstisch als in der vergangenen Nacht. Ganz im Gegenteil. Das helle Tageslicht sollte ihm etwas von seinem Schrecken nehmen, aber es hatte nur die Schatten vertrieben und zeigte ihr dafür unzählige andere Details, von denen sie kein einziges wirklich sehen wollte.
Die Häuser blieben so fremdartig und vertraut zugleich, wie Pia sie aus der vergangenen Nacht in Erinnerung hatte, aber die Straße war jetzt nicht mehr leer. Zahlreiche Personen waren allein auf dem schmalen Abschnitt zu sehen, den sie durch das Fenster überblicken konnte, Männer, Frauen und eine überraschend große Anzahl von Kindern, die an den Händen ihrer Eltern gingen, umhertollten oder auch fröhlich im Morast spielten, als herrschten draußen nicht Temperaturen irgendwo um den Gefrierpunkt. Die meisten Männer waren ähnlich gekleidet wie Brack und die beiden Betrunkenen von vergangener Nacht, zwei trugen eine Art Uniform, komplett mit Helm, Harnisch und Speer; als wären sie direkt aus einem Fantasy-Film entsprungen. Die meisten Frauen hatten weite Röcke und dazu passende, hochgeschlossene Blusen an, die der Witterung entsprechend aus warmem Stoff zu bestehen schienen, und kleine Häubchen, die ihr Haar verbargen. Ein dreirädriger Karren, der von einem Esel oder einem sehr kleinen Pferd gezogen wurde, rumpelte vorüber, und auf der gegenüberliegenden Straßenseite gewahrte sie eine Art offenen Laden, der entweder Blumen oder ganz besonders buntes Gemüse feilbot. Der Anblick wirkte ungemein friedlich und zugleich so falsch, wie er nur sein konnte.
Pia hob den Kopf und sah über die spitzen Dächer hinweg, und aus ihrem verrückten Verdacht von vergangener Nacht wurde noch verrücktere Gewissheit. Nicht allzu weit entfernt erhob sich tatsächlich der zinnengekrönte Wehrgang einer Stadtmauer über die verschneiten Dächer. Sie konnte ein Stück eines wuchtigen Turms erkennen und eine in einen dicken Fellmantel gehüllte Gestalt, die darauf patrouillierte und sich in dem fast unmöglichen Kunststück versuchte, gleichzeitig das Gesicht aus dem Wind zu drehen und das Gebiet jenseits der Mauer im Auge zu behalten.
Kein Zweifel, sie waren nicht nur in der falschen Stadt gelandet, sondern auch in der falschen Zeit, und selbst wenn sich das völlig verrückt oder total abgedreht und ganz und gar unmöglich anhörte, es war so.
Pia schüttelte den Kopf und wollte sich schon vom Fenster abwenden, als eine Bewegung ihre Aufmerksamkeit erweckte. Sie konnte nicht genau sagen, was daran falsch war, und presste stirnrunzelnd die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen, um besser sehen zu können. Eine Gestalt stand dort unten und passte nicht ins Bild des gemächlichen Flanierens. Sie war deutlich größer als alle anderen, trug einen schlichten braunen Mantel mit einer hochgeschlagenen Kapuze, doch darunter waren deutlich sowohl der struppige Fellumhang als auch der mindestens genauso struppige Bart zu erkennen. Und sie konnte die hasserfüllten Blicke, die sie unter der Kapuze heraus trafen, mit fast körperlicher Intensität spüren.