Die Angst in Lasars Augen explodierte regelrecht. »Ich habe nicht gelauscht, Erhabene!«, versicherte er.
»Sagen wir: nicht absichtlich«, sagte Pia. »Und hör mit diesem Erhabene-Unsinn auf.«
»Wie Ihr befehlt, Erhabene«, antwortete Lasar.
»Aber du hast gehört, was ich gesagt habe«, beharrte sie.
Lasar schwieg.
»Das über das Schiff und die Insel, von der wir kommen.«
Lasar schwieg weiter.
»Wirst du mich verraten?«, fragte Pia geradeheraus.
»Bestimmt nicht«, versicherte Lasar hastig. »An wen … ich meine, warum sollte ich denn …«
»Immerhin weißt du, dass wir Istvan nicht die Wahrheit gesagt haben«, fuhr Pia fort.
Lasar hob die Schultern, als wäre es nicht nur das Selbstverständlichste von der Welt, Istvan zu belügen, sondern nicht einmal der Rede wert. Dann lächelte er. »Er glaubt Euch sowieso nicht, Erhabene. Niemand hat je von dieser Insel gehört.«
»Die Welt ist groß.«
»Und woher kommt Ihr, Erhabene?«
Wenn ich das nur selbst genau wüsste, dachte Pia niedergeschlagen. Laut sagte sie: »Das ist nicht die Frage, Lasar. Ich weiß nicht einmal genau, wo wir sind. Oder wie wir von hier wegkommen.« Ohne viel Hoffnung fügte sie hinzu: »Du weißt es nicht zufällig?«
Lasar sah sie nur traurig an.
»Kann ich mich darauf verlassen, dass du niemandem verrätst, was du gerade gehört hast?«, fragte sie.
»Selbstverständlich, Erhabene. Ich würde nie etwas tun, was Euch schaden könnte.«
Nein, natürlich nicht, dachte Pia. Lasar war in dieser ganzen Stadt vermutlich der Letzte, der ihr schaden würde.
Und wahrscheinlich der einzige wirkliche Freund, den sie hatte. »Wenn wir schon einmal hier draußen sind und uns die Zehen abfrieren, dann könntest du mir auch ein bisschen was von der Stadt zeigen, oder?«, schlug sie vor. Sogar ihr selbst kam ihr Lächeln eher gezwungen vor, und Lasar wirkte nur noch verwirrter. »Die … Stadt zeigen?«
»Wir sind hier fremd«, erinnerte Pia. »Bis auf den Weißen Eber und den Marktplatz kennen wir eigentlich nichts.«
»Sehr viel mehr gibt es auch nicht zu …«, begann Lasar, druckste einen Moment herum und sah für einen zweiten einen imaginären Punkt irgendwo hinter ihr an. »Istvan will nicht, dass Ihr das Haus verlasst«, sagte er schließlich.
»Ja, und was Istvan und die Stadtwache sagen, daran muss man sich ja schließlich halten, nicht wahr?«, sagte Pia spöttisch.
Irgendwie gelang es Lasar, noch einen weiteren Augenblick völlig verwirrt auszusehen – doch dann konnte auch er ein dünnes Grinsen nicht mehr unterdrücken. »Was genau wollt Ihr sehen, Erhabene?«
»Alles?«, schlug Pia vor.
Für alles reichte es natürlich nicht, aber nachdem er seine Überraschung endlich überwunden und eingesehen hatte, dass sie es durchaus ernst meinte, gab er sich redliche Mühe, ihrem Wunsch zu entsprechen und eine improvisierte Sightseeingtour auf die Beine zu stellen. Gute zwei Stunden lang führte er sie kreuz und quer durch die verwinkelten Gassen WeißWalds, um ihr alles von Wichtigkeit zu zeigen: das Rathaus, die Straße der Händler, die Kaserne der Stadtwache und das Gefängnis, das kleine (und besonders übel riechende) Viertel, in dem sich die winzigen Werkstätten und Geschäfte der unterschiedlichsten Handwerker aneinanderdrängten, zwei oder drei der gut zwei Dutzend Tempel und Kirchen, in denen die Einwohner WeißWalds ebenso vielen unterschiedlichen Religionen huldigten, den winzigen Viehmarkt, jetzt verwaist, und hundert andere Dinge, von denen er annahm, dass sie sie interessierten. Pia schwirrte bald der Kopf von dem Gehörten, und sie hatte die Hälfte von dem, was er ihr zeigte, schon wieder vergessen, noch bevor sie sich auf den Rückweg machten. Es interessierte sie auch nicht wirklich.
Immerhin gewann sie einen allgemeinen Eindruck der Stadt, der sich mit ihren Erwartungen deckte und gleichzeitig doch vollkommen anders war. WeißWald war genau das, als was sie es auf den ersten Blick eingeschätzt hatte: eine mittelalterliche Stadt, die noch ungefähr eine Million Jahre von der Entdeckung der Dampfmaschine entfernt war, schmutzig, klein und finster und übel riechend. Der hervorstechende Charakterzug der Menschen hier schien Misstrauen zu sein; zumindest wenn sie die Blicke richtig deutete, mit denen sie unentwegt beäugt wurde. Und zugleich kam ihr alles hier mit jedem Moment bekannter vor, wie ein Ort, an dem sie zwar noch nie zuvor gewesen war, von dem sie aber schon so oft und so viel gehört hatte, dass es praktisch keinen Unterschied mehr machte.
Und vor allem fiel ihr eines auf: So klein und rückständig WeißWald sein mochte, war die Stadt doch vollkommen autark. Wenn auch zum Teil auf einem geradezu erschreckend primitiven Niveau, gab es hier doch alles, was die Bewohner der Stadt brauchten. Alles, vielleicht bis auf …
»Wovon lebt ihr?«, fragte sie. Sie befanden sich bereits auf dem Rückweg. Wenn sie ihrem Orientierungsinn noch vertrauen konnte, dann musste der Weiße Eber nach der nächsten oder übernächsten Abzweigung vor ihnen auftauchen, zusammen mit zwei vermutlich höchst verdutzt dreinblickenden Wachen. »Ich meine: Treibt ihr Landwirtschaft? Gibt es Bauernhöfe und Felder außerhalb der Stadtmauern?«
Lasar sah nachdenklich zu ihr hoch, mit einem Ausdruck, der ihr viel zu ernst für einen Jungen seines Alters schien. »Ihr wollt herausfinden, ob es außerhalb der Stadtmauern einen Ort gibt, an dem Ihr Euch verstecken könnt«, sagte er, schüttelte praktisch sofort den Kopf und schaltete seinen Gesichtsausdruck von unangemessen erwachsen auf noch unangemessener besorgt. »WeißWald ist die einzige Stadt im Umkreis vieler Tagesmärsche. Es gibt ein paar Gasthäuser, aber die werden von der Garde kontrolliert. Ihr würdet nicht weit kommen, wenn Ihr zu fliehen versuchtet. Und danach würde Istvan Euch bis zum Frühjahr in den Kerker werfen.«
Fliehen? Warum überraschte es sie eigentlich nicht, dass Lasar ausgerechnet dieses Wort benutzte? »Ich dachte, jeder könnte hier kommen und gehen, wie er will?«
»Hat Brack Euch das erzählt?«, fragte Lasar und beantwortete seine Frage auch diesmal gleich selbst, indem er heftig den Kopf schüttelte. »Innerhalb der Stadtmauern vielleicht, wenn man nicht gerade …«
»… aussieht wie ich«, führte Pia den Satz zu Ende, als Lasar nicht weitersprach, sondern nur die Unterlippe zwischen die Zähne zog und plötzlich sehr verlegen aussah. Er nickte. Pia spürte genau, dass er es eigentlich nicht bei diesem Nicken belassen wollte und da noch mehr war – sehr viel mehr –, aber sie spürte ebenso deutlich, dass er nicht antworten würde, wenn sie eine entsprechende Frage stellte. Ganz plötzlich wurde ihr klar, dass sie den armen Jungen quälte, und ihr schlechtes Gewissen meldete sich.
»Du hast meine Frage nicht beantwortet, sagte sie. »Woher kommen die Lebensmittel für all diese Leute hier? Um Ackerbau zu betreiben, ist es wahrscheinlich viel zu kalt.«
»Es gibt ein paar Höfe im Süden«, bestätigte Lasar. »Aber Ihr habt recht, Erhabene.«
»Du«, verbesserte ihn Pia.
»Du hast recht, Erhabene«, sagte Lasar gehorsam. »Die Sommer sind kurz hier, und die Ernten würden nicht ausreichen, um uns alle satt zu machen.«
»Wovon lebt ihr dann?«
»Wir treiben Handel«, erklärte Lasar unüberhörbar stolz. »WeißWalds Handwerker und Waffenschmiede sind berühmt für die Qualität ihrer Ware. Und unsere Soldaten sorgen überall im Land für Ruhe und Ordnung. Die anderen Städte und Dörfer zahlen dafür Tribut.«
Ja, das passt, dachte Pia. Ganz genauso hatte sie Istvan eingeschätzt.
»Dann ist die Stadtwache nicht nur eine Garde, die hier in WeißWald für Ordnung sorgt?«
»Wir haben eine Armee«, bestätigte Lasar. »Sie ist nicht groß, aber ihre Schlagkraft ist gefürchtet. Selbst die Orks aus dem Süden ergreifen die Flucht, wenn Istvans Truppen auftauchen.«
Pia starrte ihn an. »Orks?«, wiederholte sie.
»Orks«, bestätigte der Junge ernst. »Aber macht Euch keine Sorgen. Sie wagen sich nicht einmal in die Nähe der Stadt. Das letzte Mal, dass sie in diesem Teil des Landes gesehen wurden, muss über hundert Jahre her sein.«