Sie war halb damit fertig, als Alica und die Schneiderin ihr einseitiges Gespräch beendeten. Die dicke Frau räumte Stoff und Nähutensilien zusammen, stopfte alles in einen grauen Leinenbeutel und verließ sichtlich gut gelaunt das Lokal. Alica kam mit sehr zufriedenem Gerichtsausdruck heran geschlendert. »Einen Piccolo bitte«, sagte sie. »Und ein Glas frisch gepressten Orangensaft.«
Pia zog die linke Augenbraue hoch und schwieg.
»Ich nehme das meiste von dem zurück, was ich gestern über Aressa gesagt habe«, fuhr Alica fort. »So schlimm ist sie eigentlich gar nicht.«
»Und du hast über Nacht die Sprache hier gelernt?«, erkundigte sich Pia.
»So schwer ist es gar nicht, sich auch ohne Worte zu verständigen. Wenn zwei Künstler zusammenarbeiten, dann sind Worte nicht unbedingt nötig.«
»Künstler?«, wiederholte Pia, während sie weiter ihre Trinkbecher polierte.
»Künstler«, bestätigte Alica. Sie wedelte mit einem Tuch, das sie bisher hinter dem Rücken verborgen gehalten hatte. »Hier. Ein Geschenk von Aressa für dich.«
Pia betrachtete das Tuch stirnrunzelnd. Ein helles Stück Stoff, rechteckig und vielleicht ein wenig asymmetrisch geschnitten und kunstvoll mit Spitze umsäumt. Und? Was war daran so besonders?
»Ein neues Kopftuch für dich«, sagte Alica, der ihr fragender Blick nicht entgangen war. »Leg es an und dann knotest du es genau so und so und so … « Ihre Hände taten irgendetwas unter Pias Kinn, das sie nicht erkennen konnte, das aber ziemlich kitzelte. »Und wenn du jetzt den Kopf nach hinten wirfst und das Kinn bewegst, dann fällt es ganz zufällig hinunter und man sieht deine Haare. Probier es aus.«
Pia fand allein den Vorschlag albern, aber sie tat ihr den Gefallen, und es funktionierte tatsächlich. Der Knoten, den Alica angebracht hatte, löste sich anscheinend ganz von selbst, und ihr Haar ergoss sich wie ein weißblonder Wasserfall aus Seide über ihre Schultern. »Und?«
»Und?«, wiederholte Alica verblüfft. »Kleines, was glaubst du wohl, warum die Leute hierherkommen? Um Bracks überteuertes Bier zu genießen?« Sie schüttelte heftig den Kopf. »Betrunkene sehen die Jungs hier genug, schätze ich. Eine leibhaftige Elfenprinzessin schon seltener.«
Es dauerte noch einen Moment, bevor Pia begriff. »Und jetzt meinst du, ich sollte öfter mal mein Kopftuch verlieren?«, vermutete sie.
»Nicht öfter mal«, antwortete Alica. »Einmal am Abend, höchstens zweimal. Man muss die Jungs doch schließlich bei Laune halten.«
»Ich verstehe«, sagte Pia, hob den Kopf und sah aufmerksam nach rechts und links.
»Was suchst du?«, fragte Alica.
»Eine passende Stelle, an der wir die Stange anbringen können«, antwortete Pia. »Aber zuerst muss sich Brack um die Theke kümmern. Auf dem wackeligen Ding tanze ich bestimmt nicht.«
Alicas Miene verfinsterte sich. »He, jetzt bleib mal auf dem Teppich, Süße! Ich erwarte schließlich nicht, dass du hier einen Striptease hinlegst …«
»Noch nicht?«
»… einmal ganz davon abgesehen, dass Istvan der Schreckliche das niemals zulassen würde. Die Leute hier sind ziemlich komisch, was das angeht. Aber irgendwas müssen wir schließlich tun, um über die Runden zu kommen, oder?«
»Wir?«
»Wir«, bestätigte Alica. »Du bist nun mal diejenige von uns, die wie Galadriel aussieht. Ich habe nichts dagegen, dass du deine Zauberkräfte entfesselst und uns nach Hause bringst, aber bis es so weit ist, müssen wir von irgendwas leben. Die Leute wollen dich sehen, also stehst du einfach hier und siehst toll aus, und ich bin deine Managerin.«
»Managerin?«
»Für die üblichen fünfzig Prozent«, bestätigte Alica.
»Fünfzig Prozent? Das ist …«
»Viel zu wenig, ich weiß, normalerweise nehme ich mindestens siebzig.« Alica grinste flüchtig, wurde dann wieder ernst und wechselte das Thema. »Wenn du mit deiner Arbeit fertig bist, dann könntest du mich auf den Markt begleiten«, sagte sie.
»Auf den Markt? Um diese Zeit?« Pia ließ den Becher sinken, den sie gerade polierte.
»Die guten Leute hier stehen früh auf«, bestätigte Alica. »Und ich will sehen, ob ich noch einen Rest von dem Stoff ergattern kann, den wir gestern gekauft haben. Aressa hat zwar fast der Schlag getroffen, als sie meine Entwürfe gesehen hat, aber nachdem sie wieder zu Atem gekommen ist, haben sie ihr gar nicht mal so schlecht gefallen, glaube ich.« Sie blinzelte verschwörerisch. »Wer weiß, vielleicht kreieren wir am Ende ja noch eine neue Mode, wenn die guten Leute hier erst einmal begreifen, dass einen nicht sofort ein Strahl göttlicher Verbannung trifft, wenn sie mehr als zwei Quadratzentimeter nackter Haut zeigen.«
Pia bezweifelte das. Sie bezweifelte auch, dass es eine gute Idee war, noch einmal auf den Markt zu gehen, aber sie kannte Alica inzwischen gut genug, um zu wissen, wie sinnlos es war, sie von etwas abbringen zu wollen, was sie sich einmal in den Kopf gesetzt hatte.
Außerdem war es vermutlich immer noch besser, als hier zu bleiben und weiter Becher zu putzen.
Und es gab auf dem Markt den einen oder anderen Stand, den sie sich noch einmal genauer ansehen wollte; auch wenn sie bezweifelte, ob Istvans Wachen das zulassen würden. Sie war nicht einmal sicher, dass sie Alica und ihr gestatten würden, den Weißen Eber überhaupt zu verlassen.
Zumindest in diesem Punkt jedoch erlebte sie eine Überraschung … Die beiden Männer standen nicht nur noch immer auf der dem Eingang gegenüberliegenden Straßenseite, sondern es handelte sich tatsächlich um dieselben Männer wie gestern, und somit kam sie in den Genuss, zum ersten Mal zwei Einwohner WeißWalds zu sehen, die nicht nur müde waren, sondern wortwörtlich Mühe hatten, nicht im Stehen und auf ihre Speere gestützt einzuschlafen. Vielleicht hatte Istvan ja doch von ihrer kleinen Verfehlung von gestern erfahren und sie zur Strafe dazu verdonnert, eine zweite Wache zu schieben.
Vielleicht war er auch einfach nur ein Widerling.
So oder so, die beiden Gardisten versuchten nicht, sie am Verlassen des Weißen Ebers zu hindern, schlossen sich ihnen an und folgten ihnen mit einem knappen Dutzend Schritten Abstand, als sie sich auf den Weg zum Marktplatz machten. Pia war im ersten Moment ein wenig verärgert darüber, aber dieses Gefühl entsprang wohl nur reiner Gewohnheit – sie mochte es eben nicht, wenn sie beobachtet und gegängelt wurde.
Obwohl sie dieses Mal keinen Führer dabeihatten, bereitete es ihr nicht die geringste Schwierigkeit, den Weg zum Marktplatz zu finden. WeißWald war ihr nach wie vor fremd, und seine verwinkelten schmalen Gassen kamen ihr mehr denn je vor wie ein Labyrinth, in dem man sich schon durch bloßes Hinsehen verirren konnte … aber sie fand ihren Weg trotzdem mit fast schon traumwandlerischer Sicherheit. Alica sagte nichts dazu, doch die komischen Blicke, mit denen sie sie maß, blieben Pia keineswegs verborgen.
Mit dem Markt war es wie mit der gesamten Stadt: Auch hier waren die meisten schon auf den Beinen, die nervöse Hektik von gestern fehlte jedoch fast vollkommen. Ganz WeißWald schien zu gähnen und müde die Glieder zu strecken, und Pia hätte gerne dasselbe getan – um sich anschließend in ein warmes Bett zu kuscheln und für die nächsten zehn oder zwölf Tage durchzuschlafen. Leider war das nächste wirklich warme Bett etliche Dutzend Meilen und eine ganze Welt entfernt.
Sie fand den Stand vom vergangenen Tag nach kurzem Suchen wieder. Nur eine der drei jungen Frauen war da, und sie sah sehr müde aus, schien sie aber sofort wiederzuerkennen. Ihr Gesicht hellte sich auf, und jegliche Spur von Müdigkeit verschwand schlagartig unter einem durch und durch professionellen Lächeln. »Ah, da seid ihr ja wieder!«, sagte sie. »Das scheint mir ein gutes Zeichen zu sein, dass ihr wiederkommt. Ihr wart also mit unserer Ware zufrieden? Was kann ich heute für euch tun?«
»Wie wäre es mit einem doppelten Espresso?, schlug Pia vor. »Oder einem Milchkaffee?«
»Und einer Stange Marlboro«, fügte Alica hinzu. »Red, nicht die Lights.«
Die Marktfrau blinzelte irritiert, und Pia machte eine rasche Handbewegung. »Es geht um den Stoff, den wir gestern gekauft haben«, sagte sie.