»Ich habe euch gesagt, dass er …«
»Du verstehst mich falsch«, sagte Pia rasch. »Wir hätten gerne noch mehr davon. Einen ganzen Ballen, wenn es geht.«
»Mehr?«, wiederholte die Marktfrau verwirrt. »Aber du weißt, dass er minderwertig ist?«
Pia wollte antworten, doch Alica kam ihr zuvor, indem sie unter ihren Mantel griff und einen schmalen Stoffbeutel hervorzog, in dem es hörbar klimperte, als sie ihn bewegte. Pia dachte vorsichtshalber erst gar nicht darüber nach, woher er stammen mochte. Die Marktfrau zog flüchtig die Augenbrauen zusammen, lächelte aber im nächsten Moment schon wieder und verschwand hinter ihrem Stand.
»Siehst du?«, sagte Alica. »Es gibt eine universelle Sprache, die jeder versteht.«
Bevor Pia antworten konnte, kam die Marktfrau zurück, beladen mit einem ganzen Ballen des merkwürdigen weißen Stoffs, den sie gestern Abend erstanden hatten. Auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck, den Pia nur zu gut kannte. Sie hatte ihn oft genug gesehen, auch wenn es ihr vorkam, als wäre das in einem anderen Leben gewesen: das nicht vollkommen unterdrückte zufriedene Grinsen eines Straßenhändlers, der einen leichtgläubigen Touristen an der Angel hatte, dem er irgendeinen vollkommen überteuerten Schrott andrehen wollte. »Ich sage euch noch einmal, dass dieser Stoff von minderer Qualität und eigentlich zu nichts zu gebrauchen ist«, sagte sie, während sie den Ballen ächzend vor sich ablud. »Aber wenn ihr ihn unbedingt haben wollt … ich bin ehrlich gesagt froh, das Zeug loszuwerden. Deswegen gebe ich ihn euch für fünf Kupferstücke.«
»Was sagt sie?«, fragte Alica.
»Dass sie uns einen Sonderpreis macht«, antwortete Pia. »Fünf Stücke … was immer das sein mag.«
»Also will sie in Wahrheit drei und ich werde ihr eines bieten«, sagte Alica.
»Du willst mit ihr feilschen?«, fragte Pia.
»Warum nicht?«
»Ohne ihre Sprache zu sprechen?«
»Also dafür braucht man das wirklich nicht zu können«, antwortete Alica feixend und kramte eine einzelne Münze aus ihrem Beutel, um sie mit einer fast zeremoniellen Bewegung vor sich auf den Stoffballen zu legen.
»Also, ich weiß nicht, ob das eine so gute Idee …«, begann Pia.
Alica unterbrach sie mit einer Handbewegung. »Lass mich nur machen, Piaschätzchen«, sagte sie. »Ich komme hier schon klar. Warum siehst du dich nicht einfach ein bisschen um? Aber lauf nicht zu weit weg. Nicht, dass wir am Ende wieder verhaftet werden.«
Pia schluckte die scharfe Antwort hinunter, die ihr auf der Zunge lag, und beließ es bei einem angedeuteten Schulterzucken. Wenn Alica sich unbedingt blamieren wollte, wer war sie denn, sie davon abhalten zu wollen? Und schließlich war sie ja auch nicht nur hergekommen, um Stoff zu kaufen.
Sie trat ein paar Schritte zurück und sah eine Weile zu, wie Alica mit Händen und Füßen zu gestikulieren begann, schüttelte schließlich den Kopf und warf ihren beiden übermüdeten Begleitern einen wenig hoffnungsvollen Blick zu. Die beiden sahen so erschöpft aus, dass sie ihr ehrlich leidtaten – aber sie glaubte dennoch nicht, dass es ihr gelingen würde, ihnen irgendwie zu entwischen, ohne sich ganz offen auf einen Wettlauf mit ihnen einzulassen. Und der Markt war zu dieser frühen Stunde nicht annähernd so gut besucht wie gestern. Keine Chance, unerkannt in der Menge unterzutauchen. Also, warum nicht ganz offen?
Sie überzeugte sich mit einem Blick davon, dass Alica damit beschäftigt war, mit der jungen Händlerin zu feilschen (und es wahrscheinlich auch noch eine geraume Weile bleiben würde), und wandte sich dann in die Richtung, in die sie der Junge gestern gelockt hatte. Diesmal hatte sie keinen Führer, und der Marktplatz kam ihr beinahe noch unübersichtlicher und verwirrender vor als bei ihrem ersten Besuch; als hätten sich sämtliche Dimensionen und Winkel seither auf geheimnisvolle Weise verschoben. War sie bei der zweiten oder dritten Gasse abgebogen? Und danach?
Natürlich war es wie immer: Je angestrengter sie darüber nachdachte, desto weniger vermochte sie sich zu erinnern. Also versuchte sie es auf gut Glück. Verirren konnte sie sich jedenfalls kaum. Im schlimmsten Fall gab es ja jemanden, der sie zurückbringen würde, denn einer der beiden Gardisten folgte ihr in mittlerem Abstand.
Ausnahmsweise war das Glück einmal auf ihrer Seite. Sie fand das Zelt der Wahrsagerin zwar nicht – ganz einfach, weil es nicht mehr da war –, erreichte aber schon nach wenigen Minuten die Stelle, an der es gestanden hatte. Über Nacht hatte es leicht geschneit, und vor ihr markierte ein gut fünf Schritte durchmessender Kreis aus unberührtem Weiß im allgegenwärtigen Matsch die Stelle, an der es gestanden hatte. Pia war enttäuscht, obwohl sie sich selbst einzureden versuchte, dass sie gar keinen Grund dafür hatte. Selbst wenn Valoren noch da gewesen wäre, hätte ihr schweigsamer Begleiter wohl kaum zugelassen, dass sie noch einmal mit ihr sprach.
Sie blieb noch einen Moment lang unschlüssig stehen, dann machte sie kehrt und ging so gerade und schnell auf ihrer eigenen Spur zurück, dass ihr Bewacher einen hastigen Schritt zur Seite machte, wohl aus Angst, dass sie ihn ansonsten einfach über den Haufen rennen würde. Pia hätte sich um ein Haar ganz automatisch bei ihm entschuldigt, es gelang ihr aber, diesen Impuls im letzten Moment zu unterdrücken. Schließlich konnte man es mit dem guten Willen auch übertreiben.
Sie war schon auf halbem Weg zurück zu Alica, als ihr Blick an einem großen, bunt und golden verzierten Zelt hängen blieb. Zunächst konnte sie nichts damit anfangen, aber dann erinnerte sie sich: Es war das Zelt, in dem sie gestern den nachgemachten Pegasus gesehen hatte. Neugierig (und davon überzeugt, dass ihr Schatten sie sowieso daran hindern würde) trat sie näher heran und stellte fest, dass der Eingang verschlossen war. Dahinter war kein Laut zu hören, doch sie erkannte Stallgeruch, und da war noch etwas: ein unsichtbarer Hauch, den sie weder spüren noch hören oder riechen konnte und der etwas tief in ihr zu berühren schien.
Pia zog noch einmal prüfend an der Plane – sie war von innen verschlossen und bewegte sich nicht –, warf einen Blick über die Schulter zurück und stellte fest, dass ihr Bewacher augenscheinlich nichts gegen das hatte, was sie tat. Er stand einfach da, hatte sich auf seinen Speer gestützt und versuchte, nicht im Stehen einzuschlafen.
Sie zog noch einmal an der Plane, wartete vergebens auf irgendeine Reaktion und ging schließlich um das Zelt herum. Dahinter erwartete sie ein Anblick, der ihr auf sonderbare Weise trotz aller Fremdartigkeit vertraut vorkam: ein kleiner, halbrunder Platz, der von der Rückseite des Zeltes, zwei kleinen, an einfache Wohnwagen erinnernden Gefährten und einem etwas größeren Wagen gebildet wurde, auf dem sich ein aus schweren Eisenstäben bestehender Gitterkäfig erhob. Etwas bewegte sich darin, aber Pia konnte nicht genau erkennen, was es war. Alles war mit einer dünnen Schicht aus frisch gefallenem Schnee überpudert, und sowohl die Wagen als auch das halbe Dutzend stämmiger Ponys, das in ein paar Schritten Abstand angebunden stand, waren gerade eine Spur zu klein, um ihr nicht sofort das Wort niedlich zu entlocken. Von dem verkleideten Pferd von gestern war nichts zu sehen.
Pia wollte schon kehrtmachen und zu Alica zurücklaufen, als ihr eine schmale Öffnung an der Rückseite des Zeltes auffiel; kein zweiter Eingang, sondern einfach eine beschädigte Stelle, die schlampig geflickt und vor langer Zeit wieder aufgegangen war. Sie ging hin, bückte sich vorsichtig hindurch und fand sich in fast vollkommener Dunkelheit wieder. Im ersten Moment sah sie rein gar nichts, aber sie hörte ein gedämpftes Schnauben, und der Stallgeruch, den sie schon draußen wahrgenommen hatte, war hier drinnen ungleich stärker; ein warmes Aroma nach Heu und Stroh und frischem Pferdemist, das nicht annähernd so unangenehm war, wie sie es sich vorgestellt hätte, hätte man es ihr beschrieben. Etwas bewegte sich in den Schatten vor ihr, und plötzlich war auch jenes sonderbare Gefühl von gerade eben wieder da, so als würde sie irgendetwas tief am Grund ihrer Seele berühren.