Ihre Augen gewöhnten sich allmählich an die Dunkelheit, und die Schatten flossen zu einem hellen Schemen zusammen. Pia spürte, dass sie angestarrt wurde, aber es war nichts Unangenehmes an diesem Gefühl. Nach einer Weile spürte sie nicht nur, sondern sah, dass sie aufmerksam angestarrt wurde, aus einem Paar sanfter rehbrauner Augen, das in ein weißes Pferdegesicht eingebettet war. Nur waren es keine Pferdeaugen. Das hieß, selbstverständlich waren es Pferdeaugen, und zwar die mit Abstand wunderschönsten, die sie jemals gesehen hatte, aber sie waren zugleich auch mehr, sehr viel mehr. Da war eine Klugheit, die weit über die eines Tieres hinausging, aber auch nicht die eines Menschen war, sondern … anders. Zarter. Verwundbarer.
Ohne dass sie sich der Bewegung selbst bewusst gewesen wäre – geschweige denn etwas dagegen hätte tun können –, ging sie zu dem angebundenen Pferd hin und streckte die Hand aus, um dem Hengst über die Nüstern zu streicheln, wagte es jedoch nicht, die Bewegung auch wirklich zu Ende zu führen, weil sie irgendwie das Gefühl hatte, dass sie unangemessen gewesen wäre. Vielleicht weil im Blick des Hengstes noch mehr war, jetzt, als sie ihm aus der Nähe begegnete.
Schmerz. Schmerz und eine unendlich tiefe Trauer, viel zu schlimm, als dass sie ihre Größe auch nur annähernd erfassen konnte.
»Was haben sie dir angetan, mein Freund?«, murmelte Pia.
Der Hengst schnaubte, wie um ihre Frage zu beantworten, und nun war er es, der seinen Kopf gegen ihre Hand stieß, als wolle er sie aufmuntern statt umgekehrt. Seine Haut fühlte sich rau und irgendwie ein bisschen fiebrig an, auch wenn Pia nicht einmal wusste, was bei einem Pferd die normale Temperatur war.
Ihre Augen gewöhnten sich immer besser an das schwache Licht, sodass sie nun erkennen konnte, in welch erbärmlichem Zustand sich der Hengst befand. Er musste einmal ein wirklich prachtvolles Tier gewesen sein, riesig – nicht nur für die Verhältnisse dieser Welt, sondern selbst für Pia – und muskulös; ein Tier, das so aussah, als wäre das Wort Stolz eigens erfunden worden, um es zu beschreiben.
Jetzt bot es einen Anblick des Jammers. Es war so schrecklich abgemagert, dass man nicht nur seine Rippen unter der Haut sehen konnte, sondern es nahezu unter seinem eigenen Gewicht zusammenzubrechen drohte. Sein Fell war stumpf, begann überall auszufallen und war mit zahlreichen entzündeten Wunden übersät – und noch sehr viel mehr schlecht verheilten Narben. Der Besitzer dieses schrecklichen Etablissements hatte es nicht einmal für nötig befunden, ihm die riesigen künstlichen Flügel abzunehmen, die den Hengst mit ihrem Gewicht zusätzlich zu Boden zu reißen versuchten.
»Was für ein Ungeheuer …?«, murmelte Pia, trat mit einem raschen Schritt an die Seite des Hengstes und streckte die Hand aus, um nach dem Tragegestell zu suchen, an dem die Flügelattrappen befestigt waren. Doch sie führte auch diese Bewegung nicht zu Ende.
Da war kein Tragegestell.
Die Flügel waren echt.
Pia stand eine geschlagene Minute einfach nur da und starrte die gewaltigen Flügel an, die jetzt traurig, möglicherweise sogar gebrochen zu Boden hingen, ausgebreitet aber eine Spannweite von mindestens sechs oder sieben Metern haben und einen geradezu fantastischen Anblick bieten mussten.
Flügel.
Echte Flügel.
Vor ihr stand ein leibhaftiger Pegasus!
»Aber das ist doch … unmöglich«, murmelte sie schließlich. Ihre Stimme klang selbst in ihren eigenen Ohren fremd und belegt. Hätte sie in diesem Moment einen Spiegel gehabt, dann hätte sie wahrscheinlich in ein Gesicht geblickt, das ebenso bleich wie das Fell des fahlen Hengstes gewesen wäre.
Das Tier schnaubte, und Pia riss sich mit einiger Mühe vom Anblick der unmöglichen Flügel los und streckte nun doch die Hand aus, um sein edles Gesicht zu berühren, nicht in der Art, mit der man ein Tier gestreichelt hätte, sondern in einer durch und durch freundschaftlichen Geste.
Der Hengst schnaubte erneut. Seine Ohren bewegten sich aufmerksam, und wieder begegnete sie dem Blick seiner großen, so beunruhigend wissenden Augen. Aber diesmal verstand sie den Schmerz besser, den sie darin las. Es waren nicht nur die Schläge und der Hunger, die er erdulden musste. Viel schlimmer war das Gefangensein. Sie stand einem Geschöpf gegenüber, das für die Freiheit geschaffen war, für die unendlichen Weiten der Steppe und die noch viel unendlicheren Weiten des Himmels.
Kalte Wut ergriff Pia. Mit einer raschen Bewegung ließ sie sich in die Hocke sinken und versuchte das Seil aufzuknoten, mit dem die Vorderläufe des Hengstes zusammengebunden waren, als hinter ihr eine scharfe Stimme fragte: »Was bei Kronn tust du da?«
Pia drehte sich in der Hocke herum und fand ihr Gesicht auf gleicher Höhe mit dem einer selbst für hiesige Verhältnisse kleinen (und außergewöhnlich hässlichen) Frau, die wie aus dem Nichts aufgetaucht war und sie so wütend anfunkelte, dass sie vermutlich erschrocken zurückgeprallt wäre, wäre sie in diesem Moment nicht selbst noch viel wütender gewesen.
»Wir haben noch geschlossen, und außerhalb der Öffnungszeiten hat hier drinnen niemand etwas zu …«
»Ist das dein Pferd?«, unterbrach Pia sie kühl.
Die grauhaarige Frau stemmte herausfordernd die Fäuste in die Hüften. »Ich wüsste nicht, was dich das …«
»Ich habe dich gefragt, ob das dein Tier ist«, fiel ihr Pia erneut ins Wort; nicht einmal wirklich lauter, aber hörbar schärfer. Die Grauhaarige sog zwar hörbar die Luft zwischen den Zähnen ein, aber irgendetwas an Pias verändertem Ton musste sie wohl gewarnt haben, denn sie antwortete nicht sofort, und als sie es nach ein paar Sekunden schließlich doch tat, fehlte ihren Worten gerade jene winzige Spur von Sicherheit, die sie wirklich überzeugend gemacht hätte.
»Und wenn es so wäre?«
Bevor sie etwas erwiderte, stand Pia auf und registrierte zufrieden das fast unmerkliche Zusammenzucken der Grauhaarigen, als sie sah, wieweit sie über ihr aufragte. »Dann würde ich bezweifeln, dass das die Wahrheit ist«, sagte sie.
Die Grauhaarige setzte zu einer wütenden Antwort an, doch bevor sie dazu kam, ging eine schmale Klappe hinter ihr in der Zeltplane auf, und ein schäbig gekleideter Mann trat ein. Er hatte ein verlebtes Gesicht und war ebenso groß wie die Grauhaarige klein, aber so dürr, dass Pia sich nicht gewundert hätte, hätte sie seine Knochen klappern gehört. »Gibt es ein Problem, Nani?«, fragte er.
»Das kannst du wohl sagen!«, schimpfte die Grauhaarige. Diese …«
»Gib acht, was du sagst, Nani«, unterbrach sie der Mann, wandte sich dann direkt an Pia und zwang sich zu einem wenig überzeugenden Lächeln.
»lch bin Kerenetat«, sagte er, »der Besitzer dieses Unternehmens. Was kann ich für Euch tun?«
»Mir dieselbe Frage beantworten, die ich deiner Frau schon gestellt habe.« Pia deutete auf den Hengst. »Woher kommt dieses Tier?«
»Flammenhuf?« Kerenetat tat geschmeichelt. »Nun, ich sehe, Ihr versteht etwas von Pferden«, sagte er. »Gefällt er Euch denn?«
»Das würde er zweifellos, wenn ihr ihn nicht fast zu Tode geschunden hättet«, antwortete Pia kühl.
»Ich bitte Euch!«, sagte Kerenetat. Nani gab ein abfälliges Geräusch von sich, und ihr Mann fuhr fort: »Diese Tiere sind sehr schwer zu halten, wie Ihr vielleicht wisst. Und mein Unternehmen wirft nicht genug ab, um eine große Koppel anzuschaffen oder einen Stall und eine Menge Pfleger.«
»Ein wenig Freiheit würde vielleicht schon genügen.« Flammenhuf wieherte leise und zustimmend, und Kerenetat fiel es nun sichtbar schwer, weiter die Fassung zu bewahren. Irgendwie gelang es ihm.
»Ich wüsste zwar nicht, was Euch das anginge«, sagte er, »aber dies hier ist Flammenhuf.«
Er schien zu erwarten, dass dieser Name Pia etwas sagte, was aber nicht der Fall war. Sie sah ihn nur weiter kühl an, und schließlich fuhr er fort: »Der echte Flammenhuf. Nicht irgendeine weiße Mähre, der jemand ein Paar künstlicher Flügel angeklebt hat! Wo sollte er hingehen?«