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»Ich glaube, überall wäre besser als hier«, antwortete Pia.

»Er würde sofort wieder eingefangen oder gar getötet werden«, behauptete Kerenetat. »Und bei den meisten hätte er es nicht so gut wie bei Nani und mir!« Er machte ein seltsames Geräusch, das sich nicht besonders angenehm anhörte. »Und jetzt muss ich Euch bitten zu gehen. Wir haben noch viel zu tun, bevor die nächste Vorstellung beginnt.«

Pia schluckte alles hinunter, was ihr auf der Zunge lag, und verzichtete sogar darauf, ihrem ersten Impuls nachzugeben und den Kerl einfach in der Mitte durchzubrechen. Einen Moment lang starrte sie ihn einfach nur an. Dann tat sie etwas, von dem sie ziemlich sicher war, dass sie es später bereuen würde. Trotzdem spürte sie, dass es in diesem Moment das Richtige war: Bevor sie antwortete, wandte sie sich zum Ausgang und schlug die Plane zurück, sodass helles Licht ins Zelt drang. Kerenetats Augen wurden groß, und Nani sog fast entsetzt die Luft zwischen den Zähnen ein. Pia musterte die beiden kühl und nacheinander, dann schlug sie die Kapuze ihres Umhangs zurück, ließ ganz bewusst zwei oder drei weitere Sekunden verstreichen und löste dann auch den Knoten ihres Kopftuchs.

Diesmal gelang es weder Nani noch ihrem Mann, ein erschrockenes Keuchen zu unterdrücken.

»Ich fürchte, es wird keine weitere Vorstellung mehr geben«, sagte sie ruhig. »Ihr werdet dieses Tier auf der Stelle losbinden.«

Flammenhuf wieherte leise. Seine großen, schlaff herunterhängenden Flügel bewegten sich unruhig und verursachten dabei ein Geräusch, das ihr einen eisigen Schauer über den Rücken laufen ließ.

Jetzt, bei Licht betrachtet, sah sie erst, in welchem bemitleidenswerten Zustand sich das Tier wirklich befand. So schlaff und kraftlos, wie seine Flügel zu Boden hingen, schien es kaum vorstellbar, dass diese Schwingen jemals in der Lage gewesen sein sollten, ein Tier dieser Größe in die Luft zu heben. Und der Schmerz, den sie in seinen Augen las, wurde für einen Moment zu ihrem eigenen und explodierte regelrecht. Sie empfand nichts als Kummer. Und das Gefühl eines unendlich großen Verlustes. Alles, was das Leben dieses Geschöpfes ausgemacht hatte, war ihm genommen worden. Es existierte noch, aber es lebte nicht mehr. Jede Stunde, die es weiter in dieser Hölle verbrachte, verlängerte seine Qual.

»Wer … wer seid Ihr?«, stammelte Kerenetat schließlich.

Pia wollte antworten, doch Nani kam ihr zuvor. »Ich weiß, wer das ist!«, keifte sie. Ihr Zeigefinger stieß anklagend wie ein knochiger Dolch in Pias Richtung »Das ist die Betrügerin, von der alle erzählen! Sie gibt sich für die wiedergekehrte Gaylen aus, aber Kronn allein weiß, wer sie wirklich ist!«

»Bindet ihn los!«, verlangte Pia noch einmal.

Der dürre Mann fand seine Fassung nun endgültig wieder. »Selbst wenn ich das tun würde – was ich ganz gewiss nicht werde –, würde ich ihm damit nicht die Freiheit schenken, sondern nur den Tod.«

Pia fragte sich, ob er vielleicht recht haben mochte. Der Hengst sah nicht so aus, als könnte er mehr als ein Dutzend Schritte aus eigener Kraft gehen, ganz zu schweigen vom Fliegen. Sie machte trotzdem eine befehlende Geste auf die zusammengebundenen Vorderhufe des Tieres. »Bindest du ihn los, oder zwingst du mich, es selbst zu tun?«

»lch glaube nicht, dass Ihr mich dazu zwingen könnt«, sagte Kerenetat kalt. »Dieses Tier ist mein legitimes Eigentum, und hier in WeißWald herrschen noch immer Recht und Ordnung, soviel ich weiß!«

»Wirf sie raus, Keri!«, verlangte Nani. »Sie ist nichts als eine kleine Betrügerin!«

»Was ist hier los?«, fragte eine scharfe Stimme vom Eingang her. Pia fuhr erschrocken herum und war zum ersten Mal erleichtert, einen von Istvans Soldaten zu erblicken; den Mann, der sie vom Stoffstand hierherbegleitet hatte. Er sah nervös aus und er fühlte sich sichtlich unwohl in seiner Haut.

»Gut, dass Ihr kommt, Herr!«, sagte Nani. »Diese Betrügerin verlangt, dass wir unseren Hengst herausgeben! Dabei ist er unser rechtmäßiges Eigentum!«

»Was … hat das zu bedeuten?«, fragte der Gardist verwirrt.

»Werft sie raus!«, keifte Nani. »Sie hat hier nichts zu suchen! Und uns schon gar nichts zu befehlen!«

Auch wenn der Gardist nach wie vor so hilflos aussah, dass er ihr beinahe schon leidtat, vermutete Pia doch bekümmert, dass er schlussendlich genau so entscheiden würde.

Wortlos trat sie zu ihm, zog den Dolch aus seinem Gürtel und brachte ihn mit einem eisigen Blick zum Verstummen, als er protestieren wollte.

Noch immer schweigend ging sie vor Flammenhufs Vorderläufen in die Hocke und durchtrennte das morsche Seil, das sie zusammenband. Nani ächzte, als hätte die Messerklinge sie selbst verletzt, versuchte ganz instinktiv (und zu spät) Pias Hand zurückzureißen, dabei stieß sie der Hengst so unsanft mit der Schnauze an, dass sie mit einem überraschten kleinen Schrei nach hinten stolperte und mit einem zweiten – deutlich lauteren – Schrei auf ihrem wohlgepolsterten Hinterteil landete. Dann geschahen mehrere Dinge gleichzeitig:

Kerenetat kam anscheinend auf die Idee, sich als Gentleman der alten Schule zu erweisen und seine Ehegattin zu verteidigen. Nani kreischte, als hätte der Hengst sie nicht einfach nur umgeschubst, sondern ihr jeden Knochen im Leib gebrochen. Der Posten sagte irgendetwas, was niemanden interessierte, und Pia ließ gedankenschnell den Dolch fallen, nur um nicht ganz aus Versehen jemanden umzubringen, und hob gleichzeitig den linken Arm, um Kerenetat abzuwehren.

Und Flammenhuf explodierte.

Seine Vorderhufe zischten so dicht an Pias Gesicht vorbei, dass sie sich nicht nur einbildete, den scharfen Luftzug zu spüren, trafen Kerenetats Brust mit solcher Gewalt, dass sie hören konnte, wie seine Rippen brachen, und katapultierten ihn regelrecht aus dem Zelt. Praktisch gleichzeitig bäumte sich der Hengst auf, stieß ein schrilles Wiehern aus und schlug mit den Flügeln, die mit einem Mal gar nicht mehr schwach und kraftlos wirkten. Seine rechte Schwinge traf den Gardisten vor die Brust und ließ ihn mit einem erstickten Keuchen rücklings aus dem Zelt taumeln, das sich eine halbe Sekunde später komplett um einen halben Meter in die Höhe hob und sich dann rings um sie herum zusammenfaltete, von einem gewaltigen Hieb der anderen Schwinge getroffen.

Das alles dauerte ungefähr eine halbe Sekunde.

Pia brauchte die andere Hälfte, um instinktiv den Kopf zwischen die Schultern zu ziehen, und dann eine weitere, um sich neu zu orientieren … was auch nötig war, denn ihre Umgebung hatte sich radikal verändert.

Das Zelt war verschwunden beziehungsweise zu einem unförmigen Haufen aus Stoff geworden, unter dem sich irgendetwas bewegte und mit einer schrillen Stimme keifte, die der Nanis ähnelte. Kerenetat lag irgendwo, erschreckend weit weg, auf der anderen Seite des Platzes, spuckte mal Blut und schrie dann wieder aus Leibeskräften, und der Wachsoldat war vollkommen verschwunden. Flammenhuf hatte sich endgültig losgerissen und trabte schnaubend und zornig wiehernd im Kreis. Mehrere Männer waren herbeigeeilt – vermutlich schon zuvor angelockt vom Geschrei und der Aufregung, die aus dem Zelt gedrungen waren – und versuchten den Hengst zu bändigen, wurden aber von seinen heftig schnappenden Zähnen und ausschlagenden Hufen auf respektvollem Abstand gehalten. Überall waren Schreie zu hören und hastig trappelnde Schritte näherten sich.

Pia rappelte sich benommen auf, suchte nach dem Wachsoldaten und entdeckte ihn nur ein paar Schritte entfernt. Er hatte sich aufgesetzt und wirkte eher verdattert als verletzt – was man von Flammenhufs unglückseligem Besitzer nicht sagen konnte. Er hatte aufgehört zu schreien und wälzte sich jetzt stöhnend in einer allmählich größer werdenden Lache seines eigenen Blutes, das ihm nicht nur aus Mund und Nase, sondern auch aus den Ohren schoss. Der Anblick schnürte ihr schier die Kehle zu. Der Kerl war war ihr alles andere als sympathisch gewesen, und sie hätte ihm einen kleinen Denkzettel gegönnt (vielleicht auch einen etwas größeren, da war sie nicht wählerisch), aber sie begriff, dass er wirklich sehr schwer verletzt war, möglicherweise sterben würde. Und das hatte sie ganz gewiss nicht gewollt.