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Pia überzeugte sich mit einem raschen Blick davon, dass es dem Hengst auch weiterhin gelang, die Männer auf Abstand zu halten, die ihn wieder einzufangen versuchten, ging zum Verletzten und ließ sich neben ihm auf die Knie sinken. Kerenetat wimmerte leise. Schaumiges hellrotes Blut quoll aus seinem Mund, und sie konnte riechen, dass er die Kontrolle über alle seine Körperfunktionen verloren hatte. Er war nicht nur schwer verletzt, begriff sie schaudernd. Er starb. Jetzt. Und irgendwie war es ihre Schuld.

Ohne dass sie selbst genau hätte sagen können, was sie eigentlich tat, beugte sie sich vor, legte die Hand auf seine Stirn und lauschte in ihn hinein.

Sein Schmerz explodierte in ihr wie ihr eigener. Etwas in ihm war zerbrochen und wühlte nun wie abgebrochene Messerklingen in seinem Leib, und sie konnte beinahe sehen, wie seine Lebensflamme – die ihr Ende ohnehin fast erreicht hatte – kleiner und blasser wurde. Es war nicht nur die Verletzung. Nicht nur der grausame Schmerz, den ihm zerschmetterte Knochen und zerrissene Organe bereiteten. Darunter war etwas anderes, Schlimmeres, eine schleichende Fäule, die seit Jahren in ihm fraß und ihn verzehrte. Und etwas … regte sich in Pia, griff wie mit einer unsichtbaren warmen Hand in den Sterbenden hinein und linderte seinen Schmerz. Es lag nicht in ihrer Macht, ihn zu retten. Die Verletzungen waren zu schwer, der Schaden viel zu groß, als dass irgendeine Macht dieser Welt sie noch heilen konnten. Aber sie betäubte seinen Schmerz, schon weil es in diesem Moment auch ihr eigener war und sie sich nicht erinnern konnte, jemals solche Pein erlebt zu haben, berührte etwas tief in seiner Seele und löschte auch die Furcht aus, die ihn quälte. Kerenetats Wimmern erstarb. Seine Augen, die trüb vor Schmerz gewesen waren, klärten sich, und an die Stelle der Furcht darin trat ein Ausdruck unendlich großen Erstaunens.

»Ihr seid …«

»Nicht sprechen«, unterbrach ihn Pia. »Versuch nicht zu reden. Das strengt dich zu sehr an.« Sie kam sich bei diesen Worten beinahe lächerlich vor. Was hatte er schon zu verlieren außer ein paar Sekunden, in denen der Schmerz vielleicht die einzige Verbindung war, die er noch zum Leben hatte?

»Ihr …«, stöhnte Kerenetat. Noch mehr und helleres Blut quoll über seine Lippen, und der Rest dessen, was er hatte sagen wollen, ging in einem qualvollen Hustenanfall unter. Pia spürte, wie der Schmerz zurückkam, griff abermals in ihn hinein und betäubte ihn endgültig.

Plötzlich wurden hinter ihr Schritte laut, dann gellte ein spitzer Schrei auf, und Kerenetats Frau stieß sie so grob zur Seite, dass sie in der Hocke das Gleichgewicht verlor und halb in die Blutlache stürzte, in der der Sterbende lag.

»Keri!«, rief Nani. »Bei Kronn, Keri! Was hat sie dir angetan?« Schreiend warf sie sich über ihren sterbenden Mann, schloss ihn in die Arme und presste ihn an sich. »Keri! Sie hat dich getötet! Bei Kronn! Sie hat ihn umgebracht!«

Pia stemmte sich mühsam hoch und wäre in der Pfütze aus glitschigem Blut beinahe wieder ausgeglitten. Erschrocken registrierte sie, wie sich die Aufmerksamkeit der Menschen ringsum von dem immer noch aufgeregt im Kreis laufenden Hengst auf sie hin verlagerte. Vier oder fünf Männer kamen näher, und auf den meisten Gesichtern war im ersten Moment nichts als Verwirrung und Schrecken zu erkennen, hier und da aber auch Zorn.

»Nani, ich habe nicht …«, begann sie, doch die kleinwüchsige Frau unterbrach sie, indem sie mit einer blutbesudelten Hand auf sie deutete und noch einmal und noch lauter schrie:

»Sie hat ihn umgebracht! Sie …«

Kerenetat hob mühsam eine Hand und versuchte ihren Arm hinunterzudrücken. Seine Kraft reichte dazu nicht mehr aus, doch Nani hörte zumindest auf zu schreien und wandte das Gesicht wieder ihrem Mann zu. Pia fühlte sich entsetzlich. Sie wollte etwas sagen, aber ihre Kehle war plötzlich wie zugeschnürt, und ihr Herz schlug immer schneller und heftiger. Mühsam stand sie auf und blickte auf ihre Hände hinab, die rot von Kerenetats noch warmem Blut waren. Es war nicht ihre Schuld, versuchte sie sich einzuhämmern. Der Hengst hatte den Mann getötet, nicht sie. Aber es waren ihre Hände, an denen sein Blut klebte, nicht nur wortwörtlich, sondern auch und vielleicht umso mehr im übertragenen Sinne. Wenn sie nicht gekommen wäre, wenn sie sich nicht in Dinge eingemischt hätte, die sie rein gar nichts angingen, wäre all das nicht passiert.

»Das …es tut mir leid«, murmelte sie. »Das wollte ich nicht.«

Nani warf ihr einen hasserfüllten Blick zu, aber sie sagte nichts, sondern beugte sich nur noch tiefer über ihren sterbenden Mann, dessen Lippen sich lautlos zu bewegen schienen, als versuche er ihr etwas zu sagen, ohne dass seine Kraft dafür noch reichte.

Jemand berührte sie sacht an der Schulter. Pia fuhr erschrocken herum und blickte ins Gesicht des Gardisten, der aufgestanden und unbemerkt näher gekommen war. »Vielleicht wäre es besser, wenn wir jetzt gehen«, sagte er unsicher.

Die Menschenmenge, die sie umgab, war mittlerweile auf mindestens ein Dutzend angewachsen und wurde immer noch größer. Die meisten starrten sie einfach nur an – um präzise zu sein, eigentlich ihr Haar –, aber in etlichen Gesichtern waren auch Zorn und Wut zu lesen, und zumindest in einem Augenpaar blanker Hass.

»Ich … war das nicht«, murmelte sie lahm.

»Ich weiß«, antwortete der Soldat. »Aber es wäre trotzdem besser, wenn wir gehen.«

Wenn es dafür nicht zu spät war, dachte Pia. Die Menge wuchs immer rascher. Es mussten schon mindestens zwei Dutzend Männer sein, die sie wie eine lebende Mauer umgaben, und sie konnte spüren, wie die Stimmung kippte. Und was sollten sie auch denken? Keiner von ihnen war im Zelt dabei gewesen. Sie sahen nur das Blut an ihren Händen und auf ihrem Mantel, den sterbenden Mann und seine Frau, die sich über ihn beugte und sie beschuldigte. Der Soldat hatte recht. Sie mussten weg hier. Schnell.

Pia drehte sich herum und blieb nach einem einzigen Schritt wieder stehen, als ihr gleich zwei kleinwüchsige, aber kräftig gebaute Männer den Weg vertraten. Beide waren bewaffnet und einer blickte grimmiger drein als der andere.

»Was hast du mit Naninaranats Mann gemacht?«, grollte der Größere. Andere Stimmen murmelten drohend, und das Gefühl von Gefahr wurde so intensiv, dass Pia fast meinte, es anfassen zu können.

»Ich habe gar nichts gemacht«, antwortete Pia, so ruhig sie konnte. »Es war ein Unfall.« Als wäre sie nicht die letzte Person in gleich zwei Welten, von der sie Beistand erwarten konnte, sah sie zu Nani hin, aber die blickte nicht einmal in ihre Richtung, sondern hatte sich noch tiefer über ihren Mann gebeugt und ihr Ohr ganz dicht an seinen Mund gebracht, um zu lauschen. Seine Lippen bewegten sich, ohne dass Pia irgendetwas hörte, und er hustete Blut, das Nanis Wange und Kinn besudelte.

»Ein Unfall, so?«, fuhr der Kerl fort. Zwei weitere Burschen gesellten sich zu ihm, und Pia spürte, wie auch hinter ihr mindestens zwei Männer auftauchten, wenn nicht mehr. »Für mich sieht es eher so aus, als hättest du versucht, ihnen Flammenhuf zu stehlen.«

»Für mich auch«, pflichtete ihm eine Stimme aus der Menge bei.

»Das reicht!« Der Soldat trat mit einem schnellen Schritt zwischen sie und die Männer und legte demonstrativ die rechte Hand auf den Schwertgriff, während sich die andere fester um den Stiel seiner Hellebarde schloss. »Verschwindet! Diese Frau steht unter Istvans persönlichem Schutz.«

Was niemanden sonderlich zu beeindrucken schien. Der Kreis aus bewaffneten Männern schloss sich nur noch enger um sie.

»Sie hat einen von uns umgebracht«, fuhr der Mann fort, der zuerst gesprochen hatte.

»Das hat sie nicht«, antwortete der Soldat. »Es war so, wie sie gesagt hat. Der Hengst hat ihn getreten. Ich war dabei und habe es gesehen.«