»Trotzdem ist einer von uns ums Leben gekommen«, beharrte der Mann. »Und so etwas regeln wir hier unter uns. Geh aus dem Weg, wenn du nicht auch zu Schaden kommen willst!«
»Lasst sie in Ruhe!«
Pia war nicht die Einzige, die sich verwirrt herumdrehte und ein erstauntes Gesicht machte, als Nanis Stimme erscholl. Sie war laut und durchdringend und schrill wie immer, aber etwas war anders geworden, ohne dass Pia sagen konnte, was. Nani kniete noch immer neben Kerenetat, dessen Kopf zur Seite gerollt war. Seine Augen waren geschlossen, und in dem rosafarbenen Schaum vor seinem Mund erschienen keine frischen Bläschen mehr. Als Pia genauer hinsah, stellte sie fest, dass seine Brust aufgehört hatte, sich zu heben und zu senken. Er war tot.
»Was hast du gesagt?«, fragte der Redeführer.
»Lasst sie in Ruhe«, sagte Nani noch einmal. »Sie sagt die Wahrheit. Es war ein Unfall.« Fast zärtlich zog sie den Arm unter Kernetats Nacken hervor, stand auf und kam mit langsamen Schritten auf Pia zu. Ihr Gesicht war leer, ohne jeglichen Ausdruck, aber in ihren Augen war etwas Neues erschienen. Wo Pia vorher Hass und grenzenlosen Schmerz gesehen hatte, da war nun … Staunen? Ehrfurcht? Was um alles in der Welt hatte Kerenetat ihr mit seinen letzten Atemzügen gesagt?
»Flammenhuf hat sich losgerissen. Keri wollte ihn festhalten, und da hat er ausgetreten. Sie trifft keine Schuld.«
Pia konnte sie nur fassungslos anstarren. »Aber ich …«
»Es war nicht Eure Schuld, Herrin«, fuhr Nani fort. »Was ich gesagt habe, tut mir leid. Ich war von Sinnen vor Schmerz. Bitte vergebt mir.«
»Gerade hast du gesagt, dass sie ihn umgebracht hat«, beharrte der Mann vor Pia misstrauisch.
»Ja, und das war falsch«, antwortete Nani, ohne ihn auch nur anzusehen. »Und jetzt helft mir, diesen verdammten Gaul wieder einzufangen, damit Keri nicht ganz umsonst gestorben ist.«
»Wir sollten jetzt wirklich gehen«, murmelte der Gardist. Solange wir es noch können.
Pia antwortete mit einem angedeuteten Nicken und drehte sich erzwungen ruhig herum. Sie hatte sich getäuscht. Hinter ihr standen nicht zwei, sondern fünf Männer, die ausnahmslos bewaffnet waren, ihr aber gehorsam Platz machten – auch wenn sie spürte, dass es wohl eher aus Verwirrung geschah denn aus Respekt. Wahrscheinlich waren ihr Beschützer und sie gut beraten, wenn sie von hier verschwanden, bevor sich die Überraschung der Menge legte oder sich Nani doch noch eines Besseren besann.
Rasch, aber ohne zu rennen, gingen sie bis zur nächsten Gasse. Der Soldat beschleunigte seine Schritte noch einmal und bedeutete ihr mit ungeduldigen Blicken, es ihm gleichzutun, doch genau in diesem Moment erscholl hinter ihr ein schrilles Wiehern, und Pia blieb nicht nur stehen, sondern machte sogar kehrt und ging wieder ein paar Schritte zurück.
Etliche Männer hatten sich bereits darangemacht, Nanis Bitte zu erfüllen, und den geflügelten Hengst eingekreist. Keiner war dumm genug, seinen schnappenden Zähnen oder gar den tödlichen Hufen zu nahe zu kommen, aber sie bildeten mit ausgebreiteten Armen einen Kreis, der sich allmählich zusammenzog, um dem Tier auf diese Weise die Bewegungsfreiheit zu nehmen. Zwei oder drei andere Männer kamen mit Seilen angelaufen. Sie würden den Hengst wieder einfangen, begriff Pia, und der Gedanke bohrte sich wie ein glühender Dolch in ihr Herz. Sie kam sich vor, als hätte sie einen Freund verraten, und der Gedanke, dass es rein gar nichts gab, was sie tun konnte, machte es noch schlimmer.
»Wir sollten gehen«, drängte der Soldat. »Bitte!«
Pia nickte zwar, machte aber ganz im Gegenteil einen weiteren Schritt zurück. Sie wünschte, sie könnte irgendetwas tun, um diesem trotz allem immer noch prachtvollen Tier die Freiheit wiederzugeben, doch das lag nicht in ihrer Macht.
Der lebende Belagerungsring um Flammenhuf hatte sich mittlerweile weit genug zusammengezogen, um beinahe die Spitzen seiner gewaltigen Schwingen zu berühren, und die anderen Männer hatten Schlaufen in ihre Seile geknüpft, begannen diese wie Lassos zu schwingen und näherten sich ihm aus verschiedenen Richtungen. Flammenhuf warf mit einem zornigen Wiehern den Kopf in den Nacken und scharrte drohend mit dem Vorderlauf, aber Pia wusste, dass er keine Chance hatte. »Sie werden ihn wieder einfangen«, sagte sie bitter.
»Ja«, bestätigte der Soldat. »Es ist besser so.«
»Besser?«, wiederholte Pia empört.
»Der Mann hatte recht, weißt du? Er würde nicht überleben, selbst wenn ihm die Flucht gelänge. Sie würden ihn jagen und töten.«
»Aber er könnte ihnen doch einfach davonfliegen!«
»Fliegen?« Der Soldat sah sie verblüfft an. »Wie kommst du darauf, dass er fliegen kann?«
»Weil er Flügel hat?«
Der Ausdruck von Verblüffung auf dem Gesicht ihres Gegenübers nahm weiter zu. »Aber wer hätte jemals ein Pferd fliegen sehen?«
»Das ist kein Pferd, sondern ein Pegasus«, antwortete Pia.
»Ja. Und sie haben Flügel«, bestätigte der Mann. »Aber sie können nicht fliegen. Niemand weiß, warum das so ist … vielleicht nur eine Laune der Natur.«
»Aber Flammenhuf …«
»Flammenhuf«, unterbrach sie der Gardist, »ist eine Legende. Es soll vor vielen hundert Jahren einen mächtigen Hengst gegeben haben, den König der Pegasi. Die Legende sagt, dass er tatsächlich fliegen konnte, denn er war ein magisches Wesen, dessen Vorfahren aus dem Land der Elfen jenseits des großen Ozeans kamen. Einen Pegasus findest du auf jedem Jahrmarkt. Und natürlich ist es jedes Mal der echte Flammenhuf.«
»Und wenn er es wirklich ist?«
Der Soldat lächelte milde. »Ich glaube nicht, dass es ihn je gegeben hat«, sagte er. »Und selbst wenn, so muss er seit vielen hundert Jahren tot sein.«
Die Männer schwangen ihre Lassos und gingen jetzt gleichzeitig und sehr langsam auf den geflügelten Hengst zu. Das Tier scharrte immer nervöser mit den Vorderhufen, und sein Schnauben klang nun eindeutig drohend. Seine Flügel zuckten, als versuchte er tatsächlich, sie zu heben und damit zu fliegen.
Das erste Lasso wurde in seine Richtung geworfen. Flammenhuf wich ihm ohne Mühe aus, aber damit hatten die Männer gerechnet. Drei weitere Lassos flogen in seine Richtung. Eines wickelte sich um seine Vorderhufe, gerade als er sich aufbäumte und abermals mit den Flügeln zu schlagen versuchte – diesmal immerhin kräftig genug, um zwei der Männer von den Füßen zu schleudern. Die beiden anderen Schlingen senkten sich präzise über seinen Kopf und zogen sich blitzartig zusammen.
Was dann geschah, überraschte nicht nur Pia.
Die drei Männer waren zwar klein, aber kräftig, und sie wussten ganz offensichtlich, was sie taten, denn sie fuhren augenblicklich herum und begannen mit aller Macht und in unterschiedliche Richtungen zu ziehen. Kein noch so wildes Tier hätte diesem dreifachen Angriff widerstanden.
Flammenhuf widerstand ihm nicht nur.
Er griff seinerseits an.
Der Hengst stieg mit einem schrillen Wiehern noch weiter auf die Hinterläufe, zerriss mit einer anscheinend mühelosen Bewegung das Seil, das sich um seine Vorderhufe gewickelt hatte, und warf den Kopf in den Nacken. Die beiden Männer, deren Lassos sich um seinen Hals geschlungen hatten, wurden einfach von den Füßen gerissen und segelten in hohem Bogen durch die Luft. Einer landete fünf oder sechs Meter entfernt schwer auf dem harten Kopfsteinpflaster und blieb reglos liegen. Der andere flog sich überschlagend über Flammenhufs Rücken hinweg, und der riesige Pegasus schlug mit den Flügeln und schmetterte ihn wie einen zu groß geratenen Tischtennisball davon. Hätte Pia nicht das Geräusch brechender Knochen gehört, als er meterweit entfernt aufschlug, hätte es beinahe komisch ausgesehen.
Ein Chor erschrockener Schreie wurde laut. Gut die Hälfte der Männer ergriff auf der Stelle die Flucht, der Rest blieb einfach stehen und starrte den tobenden Pegasus fassungslos an. Nur einer war mutig (oder dumm) genug, um Flammenhuf mit bloßen Händen anzugreifen, und bezahlte diesen Entschluss mit dem Leben, als der Hengst ihm mit den Vorderhufen den Schädel zertrümmerte.