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Flammenhuf wieherte triumphierend, fuhr auf den Hinterläufen herum und galoppierte wie ein von der Sehne geschnellter Pfeil los. Seine Flügel peitschten, schleuderten Menschen und Zelte wie Spielzeuge aus dem Weg und bewegten sich immer schneller …

… und hoben ihn in die Luft!

Im ersten Moment sah es aus wie ein besonders weiter Satz, an dessen Ende die eisenbeschlagenen Hufe des Hengstes tatsächlich Funken aus dem Stein schlugen. Doch diesem ersten Satz folgte ein zweiter, größerer, und dann ein dritter, an dessen Ende das Tier nicht mehr den Boden berührte, sondern sich mit einem kraftvollen Flügelschlag endgültig in die Höhe schwang.

Und im nächsten Augenblick schon war der Hengst hinter den Zinnen der Stadtmauer verschwunden.

»Nur eine Legende, wie?«, flüsterte Pia. Ihr Herz schlug langsam, aber sehr hart, und tief in ihr schien ein weiteres Teil eines ebenso komplizierten wie gigantischen Puzzles an seinen Platz zu rutschen und dort einzurasten. Nicht mehr lange, das spürte sie, und sie würde das Bild zur Gänze erkennen können.

Der Soldat war sehr blass geworden. Es dauerte einige Zeit, bis er etwas sagte, und auch dann war es keine direkte Antwort auf ihre Bemerkung. »Wir sollten jetzt wirklich gehen«, murmelte er.

Pia widersprach ihm nicht.

XVIII

Wenn es irgendetwas gab, was Pia noch mehr überraschte als der Anblick eines Pferdes, das mit den Flügeln schlug und über die Stadtmauer flog, dann war es vielleicht der Umstand, dass niemand den Zwischenfall erwähnte; weder an diesem noch an einem der darauffolgenden Tage. Natürlich traf Alica beinahe der Schlag, als sie mit blutigen Händen und Kleidern zu ihr zurückkam, aber nachdem sie sich erst einmal davon überzeugt hatte, dass es nicht ihr Blut war, und Pia ihr erzählt hatte, was gerade passiert war, schien sie sich eher Sorgen um ihren Geisteszustand zu machen.

Pia rechnete damit, spätestens eine halbe Stunde nach ihrer Rückkehr in den Weißen Eber wieder das Vergnügen einer ernsten Unterhaltung mit Istvan zu haben. Aber er kam weder nach einer halben noch nach einer ganzen Stunde und auch nicht nach zwei oder drei. Niemand kam, und auch Brack schien nichts erfahren zu haben … entweder war er ein begnadeter Schauspieler, oder Vorfälle wie diese standen in WeißWald auf der Tagesordnung und waren es deshalb nicht einmal wert, um darüber zu reden. Später an diesem Tag kamen die ersten Gäste, und auch sie erwähnten Flammenhufs spektakuläre Flucht nicht mit einem einzigen Wort. Dasselbe galt für den Tag danach und für den danach und den darauffolgenden, bis Pia den bizarren Zwischenfall schon beinahe zu vergessen begann – und sich fragte, ob das alles tatsächlich passiert war oder sie vielleicht schon wieder einer Illusion aufsaß, mit der ihre durchgeknallte Fantasie sie zum Narren hielt.

Das mit Abstand Dramatischste, was in den nächsten acht Tagen geschah, war ein weiterer Besuch Aressas, die jene Kleider brachte, die sie nach Alicas Entwürfen angefertigt hatte. Die Kleider – und vor allem Alicas Kopftuch, dessen Zauberknoten Pia nach anfänglichem Zögern nun jeden Abend ein- oder zweimal benutzte – taten ihren Dienst, so altmodisch sie auch aussehen mochten. Der Weiße Eber war stets bis auf den letzten Platz besetzt, und die Anzahl der Gäste, die Brack abweisen musste, stieg täglich. Istvan ließ sich nur ein einziges Mal blicken, und das nicht zu einer Inspektion oder um sie wieder einmal ein bisschen zu bedrohen und unter Druck zu setzen, sondern als ganz normaler Gast, der aß und eine Menge Bier trank und lange nach Mitternacht leicht angetrunken nach Hause wankte.

Nach und nach begann sich Pia an das Leben im Weißen Eber zu gewöhnen. Sie fand es weder besonders angenehm, noch erlaubte sie sich gar, es zu akzeptieren, aber sie verfiel doch – ob sie es wollte oder nicht – in eine schleichende Routine, von der sie spürte, wie gefährlich sie war. Und um wie viel gefährlicher sie noch werden würde, wenn sie zu lange hierblieb.

Bis zu dem Tag, an dem Valorens Vertrauensmann zu ihnen kommen sollte (Pia musste sich eingestehen, dass sie seinen Namen völlig vergessen hatte), würden noch drei Nächte vergehen, und Pia wusste, dass sie spätestens dann eine Entscheidung fällen musste, selbst wenn diese nur darin bestand, ob sie zu diesem Treffen ging oder nicht.

Es wurde ein sehr langer Tag; und eine sehr kurze Nacht. Schon lange bevor die kurze Dämmerung hereinbrach und das geschäftige Leben und Treiben in den Straßen von WeißWald einem umso stilleren Feierabend wich, war der Weiße Eber bis auf den letzten Platz gefüllt. Brack, der aus dem Grinsen gar nicht mehr herauskam, musste nicht nur bald wieder die ersten Gäste wegschicken, sondern erhöhte gleich noch einmal die Bierpreise, was zwar zu einem allgemeinen Murren und Protestieren führte, aber nicht dazu, dass auch nur ein einziger Gast das Lokal verließ.

Genau wie an den Tagen zuvor waren die Gäste wohl weniger von Bracks überteuertem Bier oder reichhaltigem Essen angelockt worden – so vorzüglich es zugegebenermaßen auch sein mochte –, sondern sie wollten Alica und sie (und vor allem sie) sehen. Besser gesagt, sie zu begaffen wie ein seltenes Tier im Zoo oder eine besonders skurrile Attraktion in einer Freak-Show. Der Gedanke ärgerte Pia über die Maßen, doch irgendwann stellte sie fest, dass er zwar ohne Zweifel frustrierend, erniedrigend und ganz eindeutig demütigend war, aber auch in keinster Weise hilfreich. Dazu kam, dass ihr kaum noch Energie blieb, an irgendetwas anderes zu denken, auch wenn Alica und Lasar ohnehin das allermeiste erledigten und die Gäste bedienten, Bestellungen aufnahmen, Geld einstrichen oder hastig sauber machten, wenn einer der Gäste seinen Platz für Nachrückende räumte. Schließlich hörte sie auf, abwechselnd mit dem Schicksal zu hadern und sich selbst leidzutun, und konzentrierte sich ausschließlich auf ihre Arbeit.

Die sie voll und ganz in Anspruch nahm, wie sich zeigte. Brack verkaufte sein Bier beinahe schneller, als sie es in Krüge füllen konnte, und ein- oder zweimal eindeutig schneller, als Lasar in der Lage war, ein neues Fass hereinzurollen und anzustechen.

Erst eine Stunde vor Mitternacht begann es ein wenig ruhiger zu werden. Der Schankraum war noch immer bis auf den letzten Platz besetzt, aber Brack musste immerhin nicht mehr Gäste wegschicken, als er einließ, und Alica fand zum ersten Mal an diesem Abend Zeit, zu ihr hinter die Theke zu kommen und sich erschöpft gegen die schlampig gezimmerte Konstruktion zu lehnen.

»Allmählich frage ich mich, ob du nicht recht gehabt hast«, seufzte sie.

Pia füllte erst pedantisch den Bierkrug voll und stellte ihn auf die Theke, bevor sie sich zu ihr herumdrehte. »Womit?«

»Dass es eine Schnapsidee war, hier als Kellnerin anzuheuern«, sagte sie. »Noch so ein Tag und ich kippe aus den Latschen. Meine Füße bringen mich ja jetzt schon um.«

»Es war deine Idee.«

Alica bedankte sich mit einem ärgerlichen Blick, seufzte aber nur und kramte ihre zerknautschte Zigarettenschachtel unter dem Umhang hervor, ließ ihr Feuerzeug aufschnappen und schloss genießerisch die Augen, während sie einen ersten, tiefen Zug nahm. Pia registrierte beiläufig, dass für einen Moment alle Gespräche im Raum verstummten – und nicht alle Blicke, die Alica (und vor allem ihr Zippo) trafen, waren nur erstaunt oder erschrocken.

»Ah«, seufzte Alica noch einmal. »Das habe ich jetzt gebraucht.«

Pia linste in ihre Packung und runzelte dann die Stirn. In den vergangenen Tagen hatte Alica in puncto Rauchen eine schier unglaubliche Disziplin an den Tag gelegt, dennoch neigten sich ihre Vorräte nun erbarmungslos dem Ende zu. »Noch zwei Stück«, sagte Pia. »Sieht so aus, als müsstest du dir eines deiner kleinen Laster in allernächster Zukunft abgewöhnen.«

»Und das freut dich, wie?«, grollte Alica.

»Keineswegs. Aber Zigaretten werden bald nicht das Einzige sein, was uns fehlt.«