Alica wirkte ein bisschen erschrocken, doch nach einer Sekunde hob sie nur die Schultern, schnippte ihre Zigarettenasche auf den Boden und nahm einen weiteren und noch tieferen Zug. »Wahrscheinlich hast du recht«, seufzte sie. »Hast du zufällig auch eine geniale Idee, was wir daran ändern könnten?«
»Das Rauchen aufgeben?«, schlug Pia vor.
»Abgelehnt«, sagte Alica »Vielleicht finde ich ja einen Ersatz. Ich habe auf dem Markt ein paar Pflanzen entdeckt, die fast wie Tabak aussehen. Ich werde mir gleich morgen etwas davon besorgen und ein bisschen herumexperimentieren.«
»Ja, eine hervorragende Idee«, antwortete Pia. »Ich meine: Wir sind zwar nicht freiwillig hier, aber wir sind trotzdem so etwas wie Botschafterinnen aus einer anderen Welt, oder? Und was ist das Erste, was wir ihnen bringen? Lungenkrebs und Herzinfarkt.«
»Genauso haben sich die Ureinwohner Nordamerikas auch an denen gerächt, die ihnen ihr Land gestohlen haben, wenn ich mich richtig erinnere«, antwortete Alica ungerührt. »Hat doch funktioniert. Ich schätze, wenn man die Zahl der Nikotintoten gegen die der abgeschlachteten Indianer aufrechnet, machen die Apachen einen guten Schnitt.«
Pia wollte etwas erwidern, aber in diesem Moment ging die Tür auf, und der Anblick des Trios, das hereinkam, ließ sie die alberne Diskussion auf der Stelle vergessen.
Alle drei waren Männer, aber das war auch schon fast alles, was Pia über sie sagen konnte, und im Grunde war auch das nur eine Vermutung, die sich auf ihre langen knallroten Bärte stützte. Sie waren zu kunstvollen Zöpfen geflochten und reichten fast bis auf den Boden, obwohl sie gerade einmal einen knappen Meter lang waren; und damit fast so lang wie ihre Träger.
»Das sind …!«, ächzte Alica und riss ungläubig die Augen auf.
»Zwerge«, sagte Brack. Er klang fast erschrocken. »Starrt sie nicht so an, bei Kronn! So etwas mögen sie gar nicht!«
Alica starrte das seltsame Trio einfach weiter an, genau wie Pia, und damit waren sie nicht allein. Jeder hier drinnen hatte sich soeben zur Tür gewandt. Bierkrüge waren auf halbem Wege zu offenen Mündern erstarrt, und für einen winzigen Moment wurde es so still, dass man die berühmte Stecknadel hätte fallen hören können. Die meisten Gesichter sahen genauso erschrocken aus, wie Brack sich angehört hatte.
Dann warf der letzte Neuankömmling die Tür mit einem Knall hinter sich zu, und das Leben im Schankraum lief weiter, als hätte jemand nur kurz eine imaginäre Pause-Taste gedrückt und gleich wieder losgelassen.
»Bier!«, flüsterte Brack hastig. »Rasch, Mädchen! Drei frische Krüge Bier, und achte darauf, dass sie auch ganz voll sind!«
Die drei grotesken Gestalten steuerten einen Tisch an, dessen momentane Besitzer es sehr eilig hatten, von ihren Schemeln hochzuspringen und ihre Plätze zu räumen. Es war nicht bloß ihre Größe, die sie so sonderbar fremdartig und vertraut zugleich erscheinen ließ. Keiner von ihnen reichte Pia auch nur bis zur Brust, aber sie waren fast genauso breit wie hoch, und auch ihre übrigen Proportionen stimmten nicht. Arme und Beine waren zu kurz, die Köpfe dafür entschieden zu groß; sie wirkten wie Liliputaner – Liliputaner allerdings, die sich vorwiegend von Steroiden ernährten. Ihre Hände waren Pranken, und die schwieligen Stummelfinger sahen aus, als hätten sie keine Probleme damit, Eisenbahnschwellen zu zerbrechen. Was Pia unter ihren Bärten und dem wild wuchernden Haar von ihren Gesichtern erkennen konnte, wirkte wie aus grobem Stein gemeißelt. Gekleidet waren alle drei in zerschlissene Kapuzenmäntel und schwere Stiefel, und als sie sich bewegten, klirrte und schepperte es unter ihrer Kleidung. Pia musste nicht fragen, um zu wissen, dass sie bewaffnet waren, und das vermutlich nicht bloß mit Messern.
Die drei nahmen Platz, und Brack erschien wie hingezaubert nicht nur neben ihnen, sondern scheuchte auch mit einer unwilligen Geste den letzten Zecher davon, der keine Anstalten machte, seinen Platz zu räumen, sondern die drei abgebrochenen Riesen nur mit offenem Mund anstarrte.
»Zwerge«, murmelte Alica. Sie klang immer noch völlig fassungslos. »Das … das sind … leibhaftige … Zwerge!«
»Stell dir vor, das ist mir auch schon aufgefallen«, antwortete Pia, aber der belegte Klang ihrer Stimme nahm ihren Worten die spöttische Wirkung.
»Aber das ist vollkommen unmöglich«, beharrte Alica.
»Wie so manches andere hier?«
»Das meine ich nicht.« Alica sog so aufgeregt an ihrer Zigarette, dass ihr Gesicht kurzzeitig hinter einer graublauen Rauchwolke verschwand. Pia hustete demonstrativ, was sie aber gar nicht zur Kenntnis nahm. Stattdessen begann Alica aufgeregt mit beiden Händen zu wedeln. »Das sind Zwerge! Ich wundere mich kein bisschen, dass es hier so was gibt. Ich würde mich nicht einmal wundern, wenn gleich ein leibhaftiger Drache reinschneien würde.«
»Und was ist es dann?«, fragte Pia. Sie behielt Brack und seine drei neuen Gäste aufmerksam im Auge. Wer immer diese Zwerge auch waren, sie mussten wirklich sehr einflussreich sein; oder gefährlich. Pia konnte sich nicht erinnern, Brack jemals so unterwürfig gesehen zu haben. Nicht einmal in Istvans Gegenwart.
»Es fällt dir tatsächlich nicht auf?«, fragte Alica. »Das sind nicht einfach nur Zwerge! Sie haben lange Bärte und rotes Haar, sind klein und grob und laut …«
»Das ist mir aufgefallen«, sagte Pia.
»… und sie sehen ganz genauso aus, wie wir uns Zwerge in einer Welt der Elfen und Feen vorgestellt hätten, oder?«
Pia dachte an ein edel geschnittenes blasses Gesicht unter einem spitzen Silberhelm und einen geflügelten weißen Hengst. »Und?«
»Das kann doch kein Zufall sein«, beharrte Alica. »Verdammt, hier stimmt doch was nicht!«
»Und was soll das sein?«
»Sag du es mir«, antwortete Alica. »Du bist hier die Elfenprinzessin, nicht ich.«
Pia war beinahe dankbar, dass Brack in diesem Moment zurückkam – auch wenn er ein sehr finsteres Gesicht machte und noch immer ziemlich erschrocken aussah, vielleicht auch verängstigt. »Wo bleibt das Bier, bei Kronn?«, polterte er. »Soll ich unsere Gäste noch länger warten lassen?«
Pia beeilte sich, rasch hintereinander drei Krüge Bier zu zapfen; ganz wie Brack es gerade gesagt hatte, ohne Schaum, dafür aber randvoll. Als Alica danach greifen wollte, schüttelte Brack den Kopf.
»Nein«, sagte er. »Die Zwerge möchten, dass du sie bedienst.«
»Ich dachte, wir hätten eine Vereinbarung«, widersprach Pia.
»Das haben wir auch«, antwortete Brack hastig. »Es ist auch nur eine Ausnahme, mein Wort darauf. Aber wenn ein Zwerg etwas will, dann tut man besser daran, ihm seinen Wunsch zu erfüllen.«
»Weil sie so gut zahlen«, vermutete Pia.
Bracks Miene wurde noch einmal deutlich bekümmerter. »Ich fürchte, sie werden gar nicht zahlen«, sagte er betrübt. »Ich danke Kronn auf den Knien, sollte mein Lokal noch in einem Stück sein, wenn sie gehen. Nach ihrem letzten Besuch hat es eine Woche gedauert, bis ich wieder Gäste empfangen konnte.«
»Wenn es so ist, warum wirfst du sie nicht einfach raus?«
»Rauswerfen?«, wiederholte Brack. »Man merkt wirklich, dass du von weit her kommst, Mädchen. Niemand legt sich mit Zwergen an.« Er wedelte ungeduldig mit der Hand, als Pia widersprechen wollte. »Jetzt geh und bring ihnen ihr Bier, bevor sie ungeduldig werden und du vorgeführt bekommst, warum ich so wenig erfreut über ihren Besuch bin.«
Und das sollte sie also motivieren? Pia überlegte ernsthaft, Brack mit blumigen Worten zu erklären, wohin er sich die drei Bierkrüge stecken konnte, aber dann sah sie den Ausdruck in seinen Augen und begriff, dass er wirklich Angst hatte.
Achselzuckend versuchte sie, die drei Krüge gleichzeitig zu ergreifen, scheiterte kläglich an diesem Vorhaben und nickte dankbar, als Alica ihr beisprang und wenigstens einen der Krüge ergriff. Zusammen trugen sie sie zum Tisch.
Die allgemeinen Gespräche und Unterhaltungen hatten längst wieder eingesetzt, aber etwas hatte sich geändert. Pia hätte schon blind und taub sein müssen, um nicht zu merken, dass wirklich jeder hier drinnen versuchte, Alica und die drei Zwerge – und vor allem sie – möglichst unauffällig im Auge zu behalten, während sie sich dem Tisch näherte. Sie selbst versuchte dasselbe (wenn auch alles andere als unauffällig) mit den beiden Bierkrügen, um auch ja keinen Tropfen zu verschütten. Es gelang ihr nicht ganz, aber immerhin lud sie das meiste auf dem Tisch ab, und die drei Zwerge schienen ihr die wenigen verschütteten Tropfen nicht übel zu nehmen; wenigstens ihrem breiten Grinsen nach zu schließen, bei dem sie Alica und ihr die mit Abstand schlechtesten Gebisse präsentierten, die sie jemals zu Gesicht bekommen hatten. Alica knallte ihren Krug schwungvoll auf den Tisch, machte auf dem Absatz kehrt und blieb nach einem einzigen Schritt wieder stehen, um sie fragend anzusehen.