Pia hätte gern dasselbe getan, aber einer der Zwerge streckte rasch den Arm aus und legte ihr seine schwielige Pranke auf die Hüfte. Pia fuhr innerlich zusammen, als sie schon bei dieser flüchtigen Berührung spürte, wie stark diese Hand war.
»Warte doch noch einen kleinen Moment, schönes Kind.«
»Nimm die Hand da weg, Gimli«, sagte Pia. »Jedenfalls, wenn du sie behalten möchtest.«
»Gimli«, wiederholte der Zwerg. »Das ist nicht mein Name, schönes Kind … aber du kannst mich natürlich gerne so nennen, wenn du möchtest.«
Okay, es gab einen Unterschied zwischen diesen Zwergen und denen aus gewissen Romanen und Hollywood-Filmen.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte Alica.
»Ja«, antwortete Pia. »Geh und hilf Brack. Ich regle das hier schon.« Sie wartete, bis Alica – widerwillig – gegangen war, und wandte sich dann in verändertem und bewusst ruhigem Ton an den Zwerg. Obwohl sie sich ganz auf ihn konzentrierte, konnte sie spüren, dass die beiden anderen sie anstarrten.
»Bitte nehmt die Hand weg, geehrter Gast. Es ist nicht erlaubt, dass die Gäste das Personal anfassen.«
»Nicht umsonst, nehme ich an«, sagte der Zwerg anzüglich – nahm die Hand zwar herunter, fixierte ihren Blick aber auf eine Weise, die es ihr unmöglich machte, sich einfach umzudrehen und zu gehen. Und sie sehnsüchtig an die Pistole denken ließ, die oben in ihrem Zimmer unter der Matratze lag.
»Bleib doch noch einen Moment, schönes Kind«, fuhr der Zwerg fort. »Wie ist dein Name?«
Pia schwieg.
»Du musst die sein, von der alle reden. Habe ich recht?«
»Ich weiß nicht, was man erzählt«, antwortete Pia. »Und wer sind alle?«
»Alle eben. Ich bin Graukeil. Und du?«
»Gaylen«, antwortete Pia. »Das wolltest du doch hören, oder? Und nun muss ich wieder an die Arbeit. Du siehst ja selbst, wie viel ich zu tun habe.«
»Und wenn ich auf deiner Gesellschaft bestehe?«, fragte Graukeil. Täuschte sie sich oder klang er plötzlich ein bisschen drohend?
»Dann müsste ich höflich, aber entschieden ablehnen, Graukeil«, sagte sie.
»Weil du was Besonderes bist«, vermutete Graukeil. Jetzt klang er drohend, und zwar ganz eindeutig. »Aber weißt du, schönes Kind, für meine Brüder und mich ist das Besondere gerade gut genug. Und du willst deinem Herrn doch keinen Ärger bereiten, oder?«
»Brack ist nicht mein Herr«, antwortete Pia kühl. »Ich helfe nur ein wenig aus, weil hier so viel zu tun ist. Wenn du mich also jetzt bitte entschuldigen würdest.«
»Bleib, habe ich gesagt!« Graukeils Hand schloss sich blitzschnell und mit der Kraft eines Schraubstocks um ihr Handgelenk, und Pia hätte hinterher selbst nicht sagen können, worauf sie im Endeffekt reagierte – auf die Tatsache des Angriffes an sich oder den unerwartet heftigen Schmerz, den er ihr mit seinem brutalen Griff zufügte. Graukeil versuchte sie zu sich herab auf seinen Schoß zu zerren, aber Pia tat ganz genau das Gegenteil von dem, was er erwartete und die allermeisten Frauen an ihrer Stelle vermutlich getan hätten: Statt sich gegen seinen Griff zu wehren oder gar den Versuch zu starten, sich loszureißen, bewegte sie sich auf ihn zu und versetzte ihm einen kraftvollen Stoß, der ihn um ein Haar rücklings von seinem Schemel geschleudert hätte. Irgendwie gelang es Graukeil, sein Gleichgewicht nicht nur wiederzufinden, sondern auch mit einem zornigen Grunzen auf die Füße zu springen, und Pia half der Entwicklung noch ein bisschen nach, indem sie ihn mit beiden Händen am Bart packte und kraftvoll zu sich heraufriss – allerdings nicht ganz, sondern gerade hoch genug, um ihm das rechte Knie mit aller Gewalt ins Gesicht zu rammen.
Der Zwerg grunzte vor Schmerz und Zorn, und es war ein Gefühl, als hätte sie ihr Knie gegen massiven Beton geschlagen; aber sie hörte auch ein befriedigendes Knirschen. Als Graukeil nach hinten stolperte und beide Hände gegen das Gesicht schlug, war das leuchtende Rot darauf nicht nur sein Bart und das verfilzte Haar.
Pia sprang blitzartig zurück und bemerkte aus den Augenwinkeln, wie die beiden anderen Zwerge in die Höhe schnellten und unter ihre Mäntel griffen, aber Graukeil hatte sich bereits wieder gefangen und machte eine blitzschnelle abwehrende Geste. »Nicht«, zischte er. »Ich brauche keine Hilfe, um ein dummes Kind zurechtzuweisen.«
Mittlerweile waren auch alle anderen Gäste aufgesprungen, und Pia registrierte beiläufig, dass in so manchen Händen wie hingezaubert Waffen erschienen waren: Messer, kurze Knüppel und in einem Fall sogar ein kurzes Schwert. Offensichtlich gingen auch die Bewohner WeißWalds nie ohne das Nötigste aus dem Haus.
Allerdings machte keiner von ihnen auch nur die geringsten Anstalten, ihr zu helfen.
»Ich bitte Euch, verehrter Herr!«, stammelte Brack. »Das war doch gewiss nur eine kleine Ungeschicklichkeit, die …«
Er brach mitten im Satz ab, als einer der beiden anderen Zwerge an Pia vorbei- und auf ihn zutrat, und Graukeil zog eine Grimasse und spuckte einen Zahn aus. »Deine kleine Ungeschicklichkeit hat mich einen Zahn gekostet, Kleine«, sagte er und fing schon wieder an zu grinsen. »Da wirst du dir aber was ganz Besonderes einfallen lassen müssen, um das wiedergutzumachen.«
»Brack hat recht«, sagte Pia hastig. »Ich wollte das nicht. Es tut mir leid. Ich entschuldige mich.«
»Das wird nicht reichen, fürchte ich«, erwiderte der Zwerg. Er kam feixend näher und breitete die Arme aus, aber sein Blick blieb wach. Er würde nicht noch einmal den Fehler begehen, sie zu unterschätzen, begriff Pia – und sie sollte sich hüten, dasselbe zu tun. Der Knirps reichte ihr vielleicht gerade mal bis zur Taille, aber sie hatte gespürt, wie stark er war – sehr viel stärker als ein normaler Mann und erst recht stärker als sie –, und er hatte ganz gewiss keine Hemmungen, ihr wehzutun.
Warum also sollte sie sie haben?
»Ich habe keine Waffe«, sagte sie.
»Ich auch nicht«, antwortete Graukeil und warf sich im selben Moment mit ausgebreiteten Armen auf sie. Pia federte ansatzlos in die Höhe und schlug einen kompletten Salto über seinen Kopf, wobei sie um ein Haar mit der niedrigen Decke der Schankstube kollidiert wäre. Graukeil stürmte mit einem überraschten Knurren unter ihr hindurch. Pia kam mühelos auf beiden Füßen auf und nutzte ihren restlichen Schwung, um nach hinten auszutreten. Sie traf, verlor nun doch das Gleichgewicht und konnte ihren Sturz mit hastig ausgestreckten Armen in einen ungeschickten Liegestütz verwandeln. Mit einer fließenden Bewegung sprang sie hoch und sah gerade noch, wie Graukeil mit voller Wucht gegen Bracks improvisierte Theke krachte und sie mit sich zu Boden riss.
»Bei Kronn, ich flehe euch an!«, jammerte Brack. »Mein Lokal! Wollt ihr mich ruinieren?«
Niemand beachtete ihn. Graukeil rappelte sich mit einem Knurren auf, das an das eines ausgehungerten Wolfes erinnerte, pflückte sich ein paar Splitter eines zerbrochenen Krugs aus dem Bart und starrte sie aus Augen an, in denen nunmehr echte Mordlust funkelte. Sie hatte ihren zweiten Fehler gemacht, begriff Pia. Vielleicht wäre sie – wortwörtlich – mit einem blauen Auge davongekommen, hätte sie sich nicht gewehrt. Jetzt konnte sie von Glück sagen, wenn sie die nächsten zehn Sekunden überlebte.