»Gamma Graukeil«, fiel ihm Istvan ins Wort, »ist ein übler Raufbold und Säufer, aber das sind sie schließlich alle, diese Dreckwühler aus Ostengaard.«
»Dann wundert es mich ein wenig, dass sie sich so ungeschoren hier bewegen können«, sagte Pia. Ihre innere Stimme riet ihr dringend, jetzt besser die Klappe zu halten, aber sie fuhr trotzdem fort: »Ich meine, wo die Stadtgarde doch angeblich dafür sorgt, dass es hier ruhig und gesittet zugeht.«
Brack japste nach Luft, und auch Alica, die bisher kein Wort gesagt hatte, runzelte ein bisschen erschrocken die Stirn. Aber Istvan lächelte nur. »Man merkt in der Tat, dass du von weit her kommst«, sagte er. »Unser Verhältnis zum Volk der Zwerge ist … etwas kompliziert. Aber wo wir schon einmal dabei sind: Warum hast du uns verschwiegen, dass du eine Kriegerin bist?«
Weil ich es selbst nicht wusste?, dachte Pia. Istvan sah sie an, als hätte sie die Worte laut ausgesprochen, und Pia rettete sich in ein beiläufiges Achselzucken und die Behauptung: »Ich bin keine Kriegerin. Aber ich habe gelernt, mich meiner Haut zu wehren. Da, wo ich herkomme, lernen das alle.«
»Dann scheint ihr mir ein sehr wehrhaftes Volk zu sein«, sagte Istvan nachdenklich. »Vielleicht eines, über das man genauer nachdenken sollte.«
»Wir sind ein sehr friedliches Volk«, antwortete Pia. »Wir haben nicht einmal eine Armee.«
Istvan lächelte dünn. »Nach dem, was ich gerade gesehen habe, braucht ihr die ja wohl auch nicht.«
»Den Frieden zu lieben, bedeutet nicht, dass man automatisch wehrlos sein muss«, erwiderte Pia.
»Das ist wohl wahr«, gestand Istvan lächelnd, wurde aber sofort wieder ernst. »Du solltest diese Sache nicht auf die leichte Schulter nehmen«, fuhr er fort. »Keiner meiner Krieger hätte es gewagt, drei Zwerge zugleich herauszufordern.«
Genau genommen hatte sie das auch nicht. Und ganz genau genommen hatte sie Gamma Graukeil und seine beiden Begleiter auch nicht wirklich besiegt, sondern schlichtweg überrumpelt. Die drei hatten einfach nicht damit gerechnet, dass sie sich so heftig zur Wehr setzen würde.
Eigentlich hatte sie das auch selbst nicht getan.
»Ich hatte einfach nur Glück«, sagte sie wahrheitsgemäß.
»Ja, vermutlich«, antwortete Istvan. »Nur fürchte ich, dass Gamma Graukeil das etwas anders sehen wird. Nicht, dass ich nicht der Meinung wäre, er und diese beiden anderen Trunkenbolde hätten die Abreibung nicht verdient … aber diese Zwerge aus Ostengaard haben ein paar komische Gebräuche. Einer davon besagt, dass eine erlittene Schmach nur mit Blut gesühnt werden kann. Na ja, und von einer Frau verprügelt zu werden – noch dazu in aller Öffentlichkeit –, stellt wohl so ziemlich die schlimmste Schmach dar, die sich Gamma Graukeil nur denken kann. Ich werde natürlich versuchen, mit ihm zu reden, und ihm sagen, wer du bist und wie wenig du von unseren Sitten und Gepflogenheiten weißt – aber du solltest trotzdem sehr vorsichtig sein, solange die drei in der Stadt sind.«
»Ich kann mich täuschen«, sagte Pia, »aber haben Alica und ich Euch nicht für unseren Schutz bezahlt?«
»Den ihr bekommen werdet«, antwortete Istvan ruhig. »Die beiden Männer draußen vor der Tür werden weiter ein Auge auf den Weißen Eber werfen, und ich selbst rede mit den Zwergen. Aber sie sind unberechenbar. Sei besser vorsichtig.«
Pia musste sich auf die Zunge beißen, um Istvan nicht die Antwort zu geben, die ihm für diese Unverschämtheit zustand. Sie hob nur die Schultern.
»Darüber hinaus«, fuhr Istvan fort, nunmehr an Brack gewandt, der noch immer neben ihm stand und vor Nervosität von einem Bein auf das andere trat, »beginne ich mich allmählich zu fragen, ob es nicht ein Fehler war, mein Einverständnis zu diesem … Arrangement zu geben. Du hattest mir versprochen, dass es keinen Ärger gibt, Brack.«
»Aber das war doch nicht meine Schuld!«, protestierte Brack. »Und auch nicht die Gaylens! Die Zwerge …«
»Ich muss darüber nachdenken«, unterbrach ihn Istvan. »Vorerst bleibt alles so, wie es ist, aber es kann sein, dass ich unsere Übereinkunft überdenken muss. Vor allem, wenn es zu weiteren … Zwischenfällen kommen sollte, die dazu angetan sind, die öffentliche Ruhe und Ordnung zu stören.«
»Die Zwerge haben mit dem Streit angefangen«, erinnerte Pia, aber Istvan schüttelte nur den Kopf.
»Das allein ist es nicht«, sagte er. »Es gab auch vorher schon …gewisse Beschwerden.«
»Beschwerden? Worüber?«
Statt zu antworten, warf Istvan Brack einen bezeichnenden Blick zu, und der schmerbäuchige Wirt begann plötzlich nervös zu lächeln und trat noch unruhiger von einem Bein auf das andere.
»Es war ein ziemlich aufregender Abend, Pia«, sagte er. »Warum … äh … geht ihr, deine Freundin und du nicht nach oben und ruht euch aus? Es sind sowieso keine Gäste mehr da, und ihr habt für heute wirklich genug gearbeitet. Lasar kann hier aufräumen.«
Pia verstand. »Ganz wie du meinst«, sagte sie, stand auf und bedeutete Alica mit einer entsprechenden Kopfbewegung, dasselbe zu tun. Sie rechnete mit Widerspruch, doch Alica überraschte sie, indem sie kommentarlos aufstand und sogar als Erste zur Treppe ging.
»Dann sehen wir uns morgen früh«, sagte sie. Brack nickte wortlos (und jetzt sehr nervös) und Istvan erwiderte gar nichts, sondern sah sie nur eisig an, und schließlich drehte sie sich mit einem Ruck um und folgte Alica.
Das Zimmer war nicht so dunkel und kalt, wie sie es in Erinnerung hatte, sondern noch sehr viel dunkler und kälter. Ihr Atem kondensierte zu grauem Dampf vor ihrem Gesicht, und die einzelne Kerze, die Alica angezündet hatte, schien die Dunkelheit ringsum eher noch zu betonen. Selbst Alica war kaum mehr als ein verschwommener Schemen, die sie eigentlich nur an ihrer Bewegung erkannte.
Und natürlich an ihrem Tonfall.
»Würden es Durchlaucht in ihrer unermesslichen Güte vielleicht über sich bringen, ihre unwürdige Dienerin darüber aufzuklären, was da unten gerade passiert ist?«, fragte sie.
»Hör mit dem Scheiß auf, ja?«, sagte Pia gereizt, beantwortete Alicas Frage aber trotzdem: »Ich schätze, Istvan der Schreckliche versucht gerade, seinen Anteil an Bracks Umsatz ein bisschen zu erhöhen.«
»Stell dir vor, das ist mir auch schon aufgefallen. Aber das meine ich nicht. Nicht dass es mich etwas anginge, Gott bewahre, aber hättest du mir nicht trotzdem verraten können, dass du den siebenundvierzigsten Dan im Mikado hast?
»Hab ich nicht«, antwortete Pia. »Ich habe mich einfach nur gewehrt, das ist alles.«
Sie ging zum Bett, dachte eine halbe Sekunde darüber nach, wenigstens den Mantel abzustreifen, und entschied sich dann dagegen. Es war so bitterkalt hier drinnen, dass sie das Gefühl hatte, gemahlenes Eis zu atmen.
»Moment mal«, sagte Alica. »Du willst dich doch jetzt nicht einfach hinlegen und schlafen, oder?«
Wahrscheinlich würde sie es gar nicht können. »Ja.«
»Was für eine tolle Idee«, nörgelte Alica.
Pia legte sich hin, rollte sich in die viel zu dünne Decke und versuchte, nicht allzu laut mit den Zähnen zu klappern. Alica grummelte noch eine Weile herum, aber irgendwann gab sie es auf, löschte die Kerze und kroch auf der anderen Seite unter die Decke. Pia glaubte ihre Gänsehaut geradezu hören zu können.
»Diese ganze Geschichte ist doch vollkommen beknackt«, murrte sie.
Pia konnte ihr nur zustimmen, aber sie tat es vorsichtshalber lautlos und nur für sich, denn sie wollte wenigstens so tun, als wäre sie bereits eingeschlafen. Sie war noch immer aufgewühlt und so nervös, dass sie meinte, das Adrenalin richtiggehend schmecken zu können, trotzdem wollte sie jetzt nicht mit Alica sprechen. Weder mit ihr noch sonst jemandem. Da war zu viel, über das sie erst einmal nachdenken musste.
Es schien zu funktionieren. Alica rollte sich noch ein paar Minuten unruhig hin und her und versuchte zwei- oder dreimal ein Gespräch in Gang zu bringen, aber irgendwann gab sie auf, und ihre Atemzüge wurden ruhiger und flacher. Gerade als Pia glaubte, sie wäre endgültig eingeschlafen, vernahm sie erneut ihre Stimme.