»Nein«, antwortete sie.
»Lass dich nicht von ihm ins Bockshorn jagen«, sagte Alica. »Ich habe zwar nicht genau verstanden, worum es ging, aber sie scheinen …«
»Wenn deine Sklavin nicht in unserer Sprache reden kann«, sagte Istvan eisig, »dann sollte sie besser schweigen.«
»Was hat er gesagt?«, fragte Alica.
»Nichts.« Pia machte eine rasche Geste, still zu sein, und Alica wäre nicht Alica gewesen, hätte sie nicht zumindest noch ein trotziges Schnauben hervorgestoßen, aber sie schien den Ernst der Situation durchaus zu begreifen, denn sie schwieg.
»Du hast mich gefragt, warum ich hier bin«, begann Istvan, »und ich hätte geglaubt, dass du dir das denken kannst.«
»Es ist wegen der Zwerge, habe ich recht?«
Istvan nickte.
»Aber gestern Nacht habt Ihr noch gesagt …«
»Gestern Nacht«, fiel ihr Istvan ins Wort, »war gestern Nacht. Die Dinge ändern sich. Und ich … habe über das eine oder andere nachgedacht. Ich glaube, ich habe einen Fehler gemacht.«
Pia konnte sich gerade noch verkneifen zu antworten, dass diesen Fehler eher seine Eltern gemacht hatten, und das schon vor ziemlich vielen Jahren. Sie sah ihn nur fragend an.
»Ich war zu großzügig«, fuhr Istvan fort. »Ich kann dir nicht allein die Schuld daran geben. Es wäre ungerecht. Ich hatte von Anfang an kein gutes Gefühl und ich hätte auf dieses Gefühl hören sollen.«
Pia hörte, wie sich Malu hinter ihr bewegte, und ihr entging auch keineswegs der rasche (und alles andere als verstohlene) Blick, den Istvan mit ihr tauschte, bevor er weitersprach. »Ich habe es Brack bereits gesagt, aber ich bin froh, dass ich es dir auch selbst mitteilen kann. Es war noch nie meine Art, andere vorzuschicken und sie schlechte Nachrichten überbringen zu lassen.«
»Schlechte Nachrichten?«, wiederholte Pia. Sie hatte eine ungefähre Vorstellung davon, wie diese schlechten Nachrichten aussahen, aber sie wollte, dass er es aussprach und ihr dabei in die Augen sah.
»Ich fürchte, ich muss die Zusage rückgängig machen, die ich Brack und dir gegeben habe.«
»Welche Zusage?«, fragte Pia.
»Das alles hier«, antwortete Istvan. Er machte eine ausholende Handbewegung, die das gesamte Lokal einschloss. »Ich dachte, es wäre eine gute Idee, Brack ein beschützendes Auge auf dich und deine Freundin werfen zu lassen und auf diese Weise gleichzeitig dafür zu sorgen, dass ihr ein Dach über dem Kopf habt und nicht etwa in Gefahr geratet oder gar in schlechte Gesellschaft.«
Pia dachte einen Moment lang über diese Reihenfolge nach und tat die Frage dann mit einem gedanklichen Schulterzucken ab. Wahrscheinlich meinte er es ganz genau so. »Und jetzt ist das nicht mehr so?«
»Wie gesagt, manche Dinge ändern sich. Manche Ideen scheinen auf den ersten Blick gut und stellen sich im Nachhinein als schlecht heraus.«
»Vor allem wenn man sie lange genug mit Malu diskutiert«, vermutete Pia.
Istvan brachte das Kunststück fertig, nicht nur nicht zu Malu aufzublicken, sondern auch ein vollkommen überzeugend verwirrtes Gesicht zu machen, als wüsste er mit dieser Frage im allerersten Moment nichts anzufangen. Dann lächelte er flüchtig. »O nein«, sagte er. »Malu hat nichts damit zu tun. Wir sind uns zufällig auf dem Weg begegnet, das ist alles.«
»Rein zufällig«, sagte Pia. »Und weil ihr so gute Freunde seid, habt ihr beschlossen, ein kleines Stück zusammen zu gehen, nicht wahr?«
Istvan machte nur ein unwilliges Gesicht, fuhr aber mit immer noch ehrlich bedauernd klingender Stimme fort:
»lch war mir über die Konsequenzen eures Hierseins nicht im Klaren. Seit deine Sklavin und du in der Stadt seid …«
»Wenn es um gestern Abend geht …«, begann Pia, und diesmal unterbrach Istvan sie in zwar immer noch nachsichtigem, aber hörbar lauterem Ton:
»Es geht nicht um gestern Nacht. Nicht nur.«
»Die Zwerge haben mit dem Streit angefangen«, sprang ihr Brack bei. »Dafür gibt es drei Dutzend Zeugen.«
Istvan seufzte. »Wir alle kennen Gamma Graukeil und seine Saufkumpane zur Genüge und wissen, wie sie sind. Aber es geht nicht nur um die Zwerge.« Er lächelte flüchtig. »Es gibt wohl niemanden in der Stadt, der sich nicht insgeheim schon lange gewünscht hätte, dass ihnen einmal jemand ihre Grenzen aufzeigt.«
»Warum habt Ihr das dann nicht schon längst getan?«, erkundigte sich Pia. Istvans Miene verdüsterte sich ein ganz kleines bisschen, und ihre innere Stimme gemahnte sie zur Vorsicht. Istvan hatte ohnehin schon eine Menge von seiner sowieso nur aufgesetzten Freundlichkeit verloren, und sie tat sich gar keinen, dem Stadtkommandanten dafür aber möglicherweise einen umso größeren Gefallen, wenn sie ihm einen Grund gab, auch noch den Rest von seiner geschauspielerten Nettigkeit aufzugeben. Pia rettete sich in ein leicht verlegen wirkendes Lächeln und fuhr mit einem fragenden Blick und einer angedeuteten Geste in die Runde fort: »Ich habe gestern Abend gesehen, wie wenig beliebt diese Zwerge hier zu sein scheinen. Und wie streitsüchtig sie sind.«
»Und wie stark«, fügte Malu hinter ihr hinzu.
Pia tat so, als hätte sie das nicht gehört.
»Das ist wahr«, sagte Istvan. »Aber darum geht es nicht. Gamma Graukeil ist ein übler Schläger und Saufbold, aber tief im Grunde seines Herzens ist er doch ein vernünftiger Mann. Ich konnte ihn davon überzeugen, dass es sich nicht lohnt, in dieser Angelegenheit irgendetwas zu unternehmen.«
»Das klingt jetzt nicht unbedingt nach einem Kompliment für mich«, gab Pia zurück. Die lautlose Stimme in ihr wurde immer hysterischer. Sie versuchte ihr klarzumachen, dass sie dabei war, sich um Kopf und Kragen zu reden, und Pia fiel beim besten Willen kein Argument ein, das dagegen sprach.
»Ihr seid fremd hier und kennt weder unser Leben noch unsere Sitten und Gebräuche«, fuhr Istvan fort. »Aus diesem Grund könnt ihr auch nicht verstehen, was der gestrige Zwischenfall unter Umständen bedeuten könnte.«
»Nein, das verstehe ich in der Tat nicht«, antwortete Pia, noch immer lächelnd, dennoch aber zugleich hörbar ernster. »Ich will ehrlich zu Euch sein, Istvan: Ich habe Euch nie für einen Mann gehalten, den ich zum Freund haben möchte. Aber ich habe Euch immer für einen Mann gehalten, der seine Aufgabe ernst nimmt und zu seinem Wort steht.«
Sie sah nicht hin, doch sie konnte spüren, wie sich Malu hinter ihr versteifte, und Bracks erschrockenes Stirnrunzeln entging ihr ebenso wenig. Istvans Blick wurde noch ein bisschen lauernder.
»Wenn ich mich richtig erinnere«, fuhr sie fort, »dann haben Alica und ich Euch eine nicht ganz so kleine Summe bezahlt, damit Ihr und Eure Männer für unsere Sicherheit sorgt.« Istvan wollte auffahren, doch Pia hob rasch die Hand und sprach mit einem angedeuteten Kopfschütteln und einem bewusst kühlen Lächeln weiter: »In unserer Heimat ist so etwas nicht üblich. Dort, wo wir herkommen, sorgt die Obrigkeit für Ordnung und Ruhe, ohne dass die Menschen extra dafür bezahlen müssen. Wenn es bei euch anders ist, so müssen wir das akzeptieren. Aber wir habenbezahlt, und dennoch war gestern Abend niemand zur Stelle, als ich Hilfe nötig gehabt hätte.«
Aus dem unbehaglichen Ausdruck auf Bracks Gesicht wurde pures Entsetzen, und sie konnte hören, wie Malu hinter ihr scharf die Luft durch die Nase einzog. Selbst Alica riss die Augen auf und starrte sie ungläubig an. Nur Istvan reagierte ganz anders, als sie befürchtet hatte: Sein Blick wurde für einen kurzen Moment nahezu durchbohrend, und seine Hände, die bisher flach nebeneinander auf der Tischplatte gelegen hatten, umklammerten für die Dauer eines halben Herzschlages die Tischkante so fest, als wollte er das Möbelstück einfach zerbrechen. Dann aber lächelte er verzeihend und schüttelte fast sanft den Kopf.
»Ich hatte nicht den Eindruck, als wäret ihr unbedingt auf Hilfe angewiesen«, erwiderte er. »Um ganz ehrlich zu sein: Ich bin bis jetzt nicht ganz sicher, wem meine Männer und ich wirklich zu Hilfe gekommen sind.«
Das hätte eigentlich nicht funktionieren sollen. Den Trick, Kritik durch eine plumpe Schmeichelei zu entkräften, hatte Pia schon gelernt, bevor sie überhaupt richtig sprechen konnte, und es in einer Situation wie dieser zu versuchen, grenzte beinahe an eine Beleidigung. Aber es funktionierte dennoch; Pia ertappte sich bei einem knappen, geschmeichelten Lächeln – und das Wissen, wie unsinnig diese Behauptung in Wahrheit war, änderte rein gar nichts daran. Sie hatte die Zwerge überrumpelt, denn diese hatten mit allem gerechnet, nur nicht mit einer so heftigen Gegenwehr oder gar damit, dass sie ihrerseits zum Angriff übergehen könnte. Hätte der ungleiche Kampf auch nur wenige Augenblicke länger gedauert, dann säße sie jetzt vermutlich nicht hier.