»Aber darum geht es nicht?«, vermutete sie.
»Wie gesagt: Ich konnte Gamma Graukeil und seine Begleiter beruhigen«, fuhr Istvan fort. »Aber darum geht es wirklich nicht. Es geht um dich. Um dich und deine Sklavin.«
»Das habe ich verstanden«, sagte Alica.
Pia sah sie überrascht an.
»Das letzte Wort hieß Sklavin, habe ich recht?«, vergewisserte sich Alica. Sie machte ein grimmiges Gesicht. »Manche Worte merke ich mir.«
»Und was haben wir so Schreckliches getan?«, wandte sich Pia mühsam beherrscht wieder an Istvan. »Außer dass ich mich gewehrt habe, meine ich. Wenn ich damit gegen irgendein Gesetz verstoßen haben sollte, dann bedauere ich es. Ich wusste nicht, dass es in dieser Stadt einer Frau nicht gestattet ist, ihre Ehre zu verteidigen.«
Istvans Blick wurde noch ein bisschen bohrender, und Pia begann sich nun allmählich wirkliche Sorgen um Bracks Tischkante zu machen, doch seine Stimme blieb ruhig. »Ihr stört die Ordnung hier in der Stadt, Gaylen.« Er hob rasch die Hand, als sie widersprechen wollte. »Wenn das, was du über eure Heimat erzählst, die Wahrheit ist, dann müssen die Menschen dort sehr glücklich und sehr zufrieden sein. Hier ist es so, dass die Menschen für ihre Sicherheit bezahlen. Sie bezahlen mich, und ich nehme diese Aufgabe ernst. Gestern Abend habe ich das bewiesen. Ihr habt dafür bezahlt, dass wir euch beschützen. Doch auch die anderen hier bezahlen für diesen Schutz, und ich bin ihnen dasselbe schuldig wie deiner Sklavin und dir.«
»Warum sagst du es nicht, wie es ist, Istvan?«, fragte Malu hinter ihr. Pia setzte nun doch dazu an, sich halb herumzudrehen und ihr einen zornigen Blick zu gönnen, doch Malu nahm ihr die Mühe ab, indem sie mit schnellen Schritten um den Tisch kam und sich jetzt unmittelbar hinter Istvan aufstellte. Obwohl sie selbst für hiesige Verhältnisse so klein war, dass sie den Stadtkommandanten sogar im Stehen kaum überragte, legte sie ihm die Hand auf die Schulter, eine Geste, die in den Augen aller anderen hier vielleicht einfach freundschaftlich oder vertraut wirkte. In denen Pias war sie eindeutig besitzergreifend, und sie zweifelte keinen Sekundenbruchteil daran, dass sie es auch sein sollte.
»Seit sie und ihre Sklavin hier sind, ist alles durcheinander«, fuhr Malu fort. »Sie sorgt für Unruhe. Nichts ist mehr so, wie es sein sollte.«
»Du meinst, du spürst die Konkurrenz?«, fragte Pia gelassen.
»Als ob es mir darum ginge!«, begehrte Malu auf. Ihr Blick behauptete das Gegenteil. »Ihr stört das Leben in der Stadt. Die Männer gehen nur noch ins Wirtshaus, um euch zu begaffen. Morgens sind sie müde, schlecht gelaunt und verkatert, weil sie bis tief in die Nacht hiersitzen, und am Abend können sie ihre Arbeit gar nicht schnell genug liegen lassen, um wieder hierherzukommen. Die Frauen beschweren sich, weil sie ihre Männer kaum noch sehen, und wenn, dann sind sie betrunken oder schwärmen von der Elfenprinzessin aus dem Osten.«
»Und dir bleiben die Kunden weg?«, vermutete Pia.
Malu wollte auffahren, doch diesmal war sie es, die von Istvan mit einer raschen Geste zum Schweigen gebracht wurde. »Auch das«, antwortete er, nickend und mit einem knappen und nicht mehr ganz unterdrückten Lächeln, das aber nur Pia sah und Malu nicht. »Doch das allein wäre für mich kein Grund, hierherzukommen. Malu hat völlig recht. Ganz WeißWald steht kopf, seit du und deine Sklavin hier seid. Das muss aufhören.«
»Aber Istvan!«, mischte sich Brack ein. Selbst in seiner Stimme war jetzt eine hörbare Spur von Verzweiflung. »Wir waren uns doch einig, dass …«
»Wie gesagt«, unterbrach ihn Istvan kühl. »Manchmal ändern sich Dinge.«
»Und was genau bedeutet das jetzt?«, fragte Pia geradeheraus. »Nur damit mich meine Erinnerung nicht täuscht: Wart Ihr es nicht, der darauf bestanden hat, dass wir uns eine Arbeit suchen und irgendwo unterkommen?«
Sie behielt Istvan bei diesen Worten aufmerksam im Auge, registrierte aber trotzdem das kurze, fast triumphierende Aufblitzen in Malus Blick.
»Vorerst noch nichts«, antwortete Istvan. »Ich muss gründlich darüber nachdenken, was jetzt weiter geschieht. Ich bin hergekommen, um euch zu warnen. Noch ein einziger Zwischenfall wie der gestern Abend – oder der vor einigen Tagen auf dem Markt –, und ich muss mir überlegen, ob ich euch weiter gestatten kann, in WeißWald zu bleiben.«
Der Zwischenfall auf dem Markt? Pia war nicht ganz klar, wovon Istvan sprach: ihrem Besuch in Valorens Zelt oder Flammenhufs Flucht. Sie zog es vor, nicht danach zu fragen. »Weiter in WeißWald zu bleiben?«, wiederholte sie. »Ihr meint, Ihr würdet uns aus der Stadt werfen?« Istvan schwieg. »Und wohin sollen wir gehen?«
Istvan schwieg beharrlich weiter.
»Niemand wird euch aus der Stadt werfen, mein Kind«, sagte Malu an seiner Stelle. »Doch ihr müsst aufhören, die Ordnung der Dinge zu stören. Dieser Verfall der Sitten muss ein Ende haben.«
Pia wollte es nicht, aber sie riss ungläubig die Augen auf und starrte die Bordellbesitzerin an. Verfall der Sitten? Ausgerechnet aus ihrem Mund?
»Schau dich bloß an, wie du aussiehst!«, fuhr Malu fort. Sie wedelte aufgeregt mit der Hand. »Einem jeden anständigen Mann müssen schlechte Gedanken kommen, wenn er dich nur ansieht!«
Pia tat ihr den Gefallen, an sich selbst hinabzublicken. Auch sie war der Meinung, dass sie einen seltsamen Anblick bot: Seit sie hergekommen waren, hatten Alica und sie sich angewöhnt, in ihren Kleidern zu schlafen, weil es einfach zu kalt war, um sich nur auf die erbärmlich dünne Decke zu verlassen, die auf dem Bett lag. Ihr war so kalt, dass sie dicht davor stand, mit den Zähnen zu klappern und ihr Atem als grauer Dunst vor ihrem Gesicht erschien, wenn sie sprach. Die Kleider, die Aressa für Alica und sie geschneidert hatte, mochten für hiesige Verhältnisse ja verführerisch aussehen (auch wenn sich in Rio de Janeiro vermutlich eine militante Nonne geweigert hätte, so etwas zu tragen), gleichzeitig bezahlte sie für diese modische Entgleisung damit, noch mehr zu frieren. Und dass sie seit einer Woche in diesem Fetzen schlief, hatte ihn nicht unbedingt besser gemacht. Allerdings glaubte sie gar nicht, dass Malu das gemeint hatte. Sie hob wieder den Kopf und sah die Zwergin fragend und mit dem eisigsten Lächeln an, das sie zustande brachte. Malu ihrerseits starrte zurück, und es vergingen noch einmal Sekunden, bis Pia begriff, was genau sie so erzürnte.
Was sie allerdings nur noch zorniger machte.
Sie erinnerte sich schwach, gestern Abend sogar mit Kopftuch schlafen gegangen zu sein, aber irgendwann im Laufe der Nacht musste es ihr wohl hinuntergerutscht sein, und sie hatte es bisher nicht einmal bemerkt. Malu starrte aber eindeutig ihr Haar an. Trotzig ließ Pia eine dünne weißblonde Strähne durch die Finger gleiten. In Malus Augen blitzte es erneut und jetzt schon beinahe hasserfüllt auf, während sich auf Istvans Gesicht ein vollkommen anderer Ausdruck abzeichnete; allerdings nur für den Bruchteil einer Sekunde, bevor er von einem heftigen Schuldbewusstsein und daraus resultierendem Zorn abgelöst wurde.
»Ich bitte Euch, Istvan«, sagte Brack. Er begann immer heftiger mit den Händen zu ringen, und sein Blick irrte unstet zwischen Istvans und Pias Gesicht hin und her, wobei er sorgsam darauf achtete, Malu gar nicht anzusehen. »Wir sind doch alle vernünftige Menschen. Es wird uns sicher möglich sein, eine Lösung zu finden, mit der alle zufrieden sind.« Er fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen. »Ich gebe zu, es ist meine Schuld. Ich hätte besser darauf achtgeben sollen. Ihr und ihrer Freundin sind unsere Gebräuche nicht bekannt. Was uns anzüglich oder unsittlich erscheinen mag, das ist dort, wo sie herkommen, vielleicht ganz normal, und umgekehrt.«