»Und?«, fragte Pia. »Ist das die Wahrheit?«
»Es ist übertrieben«, sagte Brack. »Aber vielleicht nicht allzu sehr. Auch wenn Istvan es nicht zugeben würde, gibt es nicht nur ehrliche Menschen hier.«
»Und Malu gehört dazu?«
»Malu?« Brack schüttelte noch einmal und noch heftiger den Kopf. »O nein. Sie würde nie etwas tun, was nicht Recht und Gesetz entspricht. Sie ist eine vorbildliche Bürgerin.«
»Die ein Freudenhaus leitet.«
»Jemand muss es tun«, erwiderte er schulterzuckend. »Und, wie gesagt: Sie hat sich nie etwas zuschulden kommen lassen.
»Ja, da bin ich sicher«, sagte Pia. »Sie selbst würde vielleicht niemals etwas tun, was Istvans Missfallen erregt oder gegen eure Gesetze verstößt. Aber sie kennt genügend Leute, die es für sie erledigen.«
Brack sah sie einen Atemzug lang mit undeutbarem Ausdruck an, dann stahl sich ein dünnes, rasch vergängliches Lächeln auf seine Lippen. »Das klingt, als gäbe es auch dort, wo ihr herkommt, Menschen wie Malu.«
»Und Istvan«, fügte Pia hinzu. Jetzt war sie es, die kurz und sehr bitter lächelte. »Ich glaube, solche Menschen gibt es überall. Ja, ich kenne sie.«
»Also, ich bin ja die Letzte, die kein Verständnis dafür hat, dass ihr zwei Süßen Geheimnisse vor mir habt«, mischte sich Alica ein. »Trotzdem würde ich gern an eurem kleinen Gespräch teilhaben.«
Pia stand nicht der Sinn danach, auf Alicas Albernheiten einzugehen. Sie übersetzte verkürzt, aber vollkommen korrekt, was Brack ihr gerade erzählt hatte, und Alica nickte, als hätte sie nichts anderes erwartet.
»Na prima«, nörgelte sie. »Da hätten wir ja eigentlich auch gleich zu Hause bleiben können. Wo genau ist jetzt der Unterschied zwischen den Peraltas und Malu?«
»Malu schießt nicht auf uns«, sagte Pia. Ganz sicher, dass das auch so bleiben würde, war sie jedoch nicht, und Alica schien es wohl ganz ähnlich zu ergehen. Sie schürzte nur die Lippen, machte ein unanständiges Geräusch und warf dann einen sehnsüchtigen Blick auf den erloschenen Kamin. Brack folgte ihrer Kopfbewegung, drehte sich ächzend auf seinem Schemel herum und machte eine knappe, befehlende Geste. Pia erinnerte sich erst in diesem Moment wieder an Lasar, der die ganze Zeit über dabei gewesen war, sich aber wohlweislich mucksmäuschenstill im Hintergrund gehalten hatte. Jetzt eilte er zum Kamin, legte eine Handvoll Reisig auf die kalt geworden Asche, die von der vergangenen Nacht übrig geblieben war, und griff in die Tasche seiner zerschlissenen Weste, um zwei winzige, abgenutzte Feuersteine hervorzukramen. Alica beobachtete ihn einen Moment lang stirnrunzelnd und nahm dann ihr Feuerzeug heraus, doch sie kam nicht einmal dazu, den Deckel des Zippo aufzuklappen, bevor Lasar seine Feuersteine benutzt und schon mit dem ersten Versuch ein winziges Flämmchen produziert hatte, das er geschickt anblies. Alica sah ein bisschen beleidigt aus, beließ es aber bei einem Schulterzucken und wandte sich an Brack, während sie das Feuerzeug wieder einsteckte.
»Und was genau bedeutet das jetzt für uns?«
Pia übersetzte und Brack sagte düster:
»Ich weiß es nicht. Solange nichts passiert, wird es Istvan schwerfallen, einen Grund zu finden, um das Wort zu brechen, das er mir gegeben hat.«
»Solange nichts passiert«, wiederholte Pia. Sie lächelte freudlos. »Wieso habe ich nur das Gefühl, dass etwas passieren wird?«
»Nicht, solange ihr das Haus nicht verlasst und ich darauf achte, wer hereinkommt und wer nicht.«
»So, wie die Zwerge gestern Abend?«, fragte Alica, nachdem Pia übersetzt hatte.
Brack musste wohl irgendwie begriffen haben, was sie gesagt hatte, auch ohne dass Pia übersetzte. »Das war etwas anderes«, behauptete er. »Niemand wagt es, Gamma Graukeil abzuweisen, wenn er Einlass begehrt.«
»Ja, das schien mir auch so«, bestätigte Pia. »Selbst Istvan scheint sie zu fürchten. Sind sie wirklich so schlimm?«
»Gamma Graukeil ist ein übler Schläger und Raufbold. Du hast Glück, dass du noch lebst, Mädchen.«
Gamma Graukeil … Pia wiederholte den Namen und wunderte sich ein bisschen über das vertraute Echo, das er tief in ihr wachrief. Dabei war sie ganz sicher, ihn noch nie zuvor gehört zu haben. Und wie auch?
»Aber nicht alle Zwerge sind wie Graukeil und seine Kumpane«, antwortete Brack. »Aus den Minen von Ostengaard kommt das allermeiste Erz in diesem Teil des Landes. Streit mit den Zwergen würde kaum Krieg bedeuten, möglicherweise aber steigende Preise.«
»Und davor hat Istvan mehr Angst als vor einem Krieg«, vermutete Pia, »weil das seinen Gewinn schmälern könnte.«
Brack antwortete nur mit einem Grinsen.
»Es tut mir trotzdem leid«, sagte Pia noch einmal. »Ich wollte dir keinen Ärger bereiten.«
»Er wäre größer, wenn du jetzt tot wärst«, sagte Brack ernst. Dann grinste er plötzlich wieder. »Und heute Abend kommen wahrscheinlich noch mehr Gäste, weil sie hoffen, eine kostenlose Sondervorstellung zu bekommen.« Er musste wohl ahnen, was Pia darauf antworten würde, denn er machte eine rasche Bewegung, als wolle er sein Gesicht schützen, falls sie etwa auf die Idee kommen sollte, ihn zu schlagen, grinste zugleich aber noch breiter und sogar beinahe überzeugend. »Lass mich ein wenig nachdenken. Ich weiß, ich bin darin nicht so gut wie du, aber ich kenne Istvan, und ich habe vielleicht auch noch den einen oder anderen Trick auf Lager.«
Das klang sehr viel mehr nach etwas, woran er glauben wollte als nach wirklicher Überzeugung, fand Pia, doch sie war viel zu verwirrt, um irgendetwas wirklich Intelligentes entgegnen zu können. Sie hob nur die Schultern und lächelte ebenso unecht wie Brack, und nach einem weiteren, quälend langen Moment stand er auf und ging.
Pia blickte ihm kopfschüttelnd nach. »Das darf doch alles nicht wahr sein«, murmelte sie. Sie wollte wütend werden, aber es gelang ihr nicht. Sie war einfach nur niedergeschlagen. »Noch drei Tage, und … und dann kommt uns diese … diese gierige Puffmutter dazwischen!«
»Drei Tage bis was?«, fragte Alica.
»Bis zum Viehmarkt. Schon vergessen?«
»Du willst wirklich dorthin gehen?«, fragte Alica. »Zu einer Verabredung mit jemandem, den wir nicht kennen und … und an dessen Namen du dich nicht einmal mehr erinnerst?«
»Fällt dir etwas Besseres ein?«
Alica sah sie eine ganze Weile lang nachdenklich an. Dann nickte sie. »Ich glaube schon.«
XX
Vor zehn Minuten war die Sonne untergegangen – vor genau zehn Minuten, wenigstens ihre innere Uhr funktionierte noch –, und wenn sie geglaubt hatte, dass es in WeißWald tagsüber bitterkalt war, dann musste sie für das, was sie jetzt empfand, wahrscheinlich ein neues Wort erfinden. Die Luft war so frostig, dass Pia schon überlegt hatte, das Atmen einzustellen und sie stattdessen zu lutschen, außerdem war es beinahe unheimlich still – sah man von dem Gelächter, den schrillen Stimmen und der noch schrilleren atonalen Musik (wenn es überhaupt Musik war) ab, die durch die geschlossene Tür des Elfenturms drangen.
Außerdem würde Brack der Schlag treffen, wenn er an ihre Tür klopfte (was ungefähr in diesem Moment der Fall sein musste) und feststellte, dass sie nicht mehr da waren.
»Ich halte das immer noch für keine gute Idee«, sagte Pia – nicht zum ersten Mal, seit sie den Weißen Eber verlassen hatten –, obwohl sie noch gar nicht genau wusste, wie Alicas Plan überhaupt aussah. Sie hatte auch nicht zum ersten Mal das Gefühl, dass es eigentlich Alicas Part war, diese Worte auszusprechen; und zwar mit haargenau derselben nörgeligen Betonung, die ihr an Alica so auf die Nerven ging.
»Ist es auch nicht«, antwortete Alica. »Aber wir hatten einen Deal, oder? Du bringst mich hier rein, und dafür erzähle ich Brack nicht, was du wirklich vorhast … obwohl ich es eigentlich sollte.«
»So?«
Alica nickte heftig. »Das ist Wahnsinn. Wenn ich wirklich deine Freundin wäre, dann müsste ich eigentlich alles in meiner Macht Stehende tun, um dich davon abzuhalten.«