»Und ich dachte, du behandelst deine Mädchen gut«, sagte sie.
»Einer der Punkte, über die wir reden müssen«, fügte Alica hinzu.
Malu riss ihren Arm los – oder versuchte es wenigstens –, und Pia hielt sie gerade lange genug fest, um ihr klarzumachen, dass sie einzig und allein freikam, weil sie es zuließ. Pia war nicht einmal außergewöhnlich stark (wenn auch alles andere als schwach), aber mit ihren und Alicas Körperkräften verhielt es sich so wie mit ihrer Größe: Sie waren den Einwohnern von WeißWald hoffnungslos überlegen. Pia hatte in den vergangenen Tagen längst begriffen, dass sie Brasil und seine Bande keineswegs nur besiegt hatten, weil diese so ganz und gar nicht mit irgendeiner Gegenwehr gerechnet hatten.
»Das dumme Ding hat es nicht besser verdient!«, schimpfte Malu. »Hundertmal habe ich ihnen gesagt, dass sie zuerst bezahlt werden müssen. Wenn sie nicht hören kann, dann …«
»… muss sie eben fühlen?«, fragte Pia eisig. »Ich verstehe.«
»Aber so war das doch gar nicht …«, begehrte Malu auf, brach dann mitten im Satz ab und zwang sich sogar zu einem Lächeln; oder etwas, was sie dafür hielt. »Du hast natürlich vollkommen recht. Wie konnte ich mich nur so hinreißen lassen? Es tut mir leid.«
Pia starrte sie weiter eisig an, und Malu schien plötzlich noch nervöser zu werden, wischte sich fahrig mit dem Handrücken über den Mund und drehte sich dann zu dem Mädchen herum. »Entschuldige, Kind«, sagte sie. »Das war ungerecht von mir.« Sie streckte die Hand nach dem Mädchen aus. Im ersten Moment zuckte es fast erschrocken zurück, und im zweiten starrte es Malus Hand bloß fassungslos an; als könne es sich einfach nicht vorstellen, dass sie sich nach ihm ausstreckte, um ihm zu helfen.
»Komm, Kind«, sagte Malu in zuckersüßem Ton. »Geh und ruh dich eine Stunde aus. Auf den Schrecken hin hast du dir das verdient.« Sie wartete, bis das vollkommen überraschte Mädchen ihre Hand ergriffen hatte und aufgestanden war, dann wandte sie sich wieder zu Pia um, und ihr Lächeln wurde sogar beinahe überzeugend. »Du bist also gekommen«, sagte sie, wie um das Gespräch noch einmal von vorne zu beginnen.
»Nach deinem Besuch gestern Abend bleibt uns ja wohl kaum eine große Wahl«, erwiderte Pia kühl.
»Mein Besuch?« Malu heuchelte perfekte Verwirrung.
»Gestern Abend. Du warst zusammen mit Istvan im Weißen Eber. Erinnerst du dich?«
»Istvan?« Malu runzelte die Stirn und nickte schließlich. »Oh, jetzt verstehe ich. Dem Kommandanten der Stadtwache, nicht wahr? War er auch dort? Ich habe ihn gar nicht gesehen. Seit du dort bist, herrscht im Weißen Eber ja reger Betrieb, wie man hört. Brack kann zufrieden sein.«
Pia musste sich beherrschen, um ihren Zorn hinunterzuschlucken. »Man hört auch, dass sich das vielleicht bald wieder ändert.«
»So?«Malus Lächeln kühlte um mehrere Grade ab und wurde zugleich deutlich verschlagener. »Hört man das? Na ja, die Leute reden viel Unsinn. Ist das da, wo du herkommst, etwa anders?«
»Ich hätte dir einen Vorschlag zu machen«, sagte Pia. »Gibt es einen Ort, wo wir in Ruhe reden können?«
Malu nickte, deutete die Treppe hinauf und setzte sich ohne ein weiteres Wort in Bewegung. Als Pia und Alica ihr folgten, fiel Pia auf, wie still es immer noch war. Die Mädchen und ihre verbliebenen Kunden hatten innegehalten, womit auch immer sie gerade beschäftigt gewesen waren, und starrten sie an.
Gut, so viel also zum Thema unauffällig.
Malu führte sie in ein winziges, karg eingerichtetes Zimmer, das nur ein handtuchbreites Fenster und nicht einmal einen Kamin hatte. Selbst hier drinnen war es so kalt, dass ihr Atem als grauer Dampf vor ihren Gesichtern erschien.
»Warum nimmst du nicht dieses hässliche Kopftuch ab, mein Kind?«, begann Malu, nachdem sie die Tür sorgfältig hinter sich zugedrückt und sich so davor aufgebaut hatte, als wäre sie wild entschlossen, Pia nur noch über ihre Leiche wieder hinausgehen zu lassen. Ein Vorschlag, über den nachzudenken sich möglicherweise lohnte. »Dein Haar ist doch wirklich das Schönste an dir. Du solltest es nicht verstecken. Jedenfalls nicht hier drinnen.«
»Das lohnt sich nicht«, sagte Pia. »Ich werde nicht lange bleiben.«
Malu blinzelte. »Aber ich dachte …«
»Ich bin gekommen, um dir einen Vorschlag zu machen, nicht um für dich zu arbeiten.«
»Nicht?«, wiederholte Malu enttäuscht.
Pia machte eine Kopfbewegung auf Alica hin. »Meine Freundin würde gerne für dich arbeiten.«
»Deine …?« Malu starrte in Alicas Gesicht hinauf und war für einen Moment sichtlich sprachlos. »Ich fürchte, das wird nicht so leicht sein«, sagte sie schließlich. »Deine Freundin ist ein hübsches Ding, aber ein Mädchen wie sie …«
»Nicht so, wie du denkst«, unterbrach sie Pia.
»Nicht so, wie ich denke«, wiederholte Malu. Sie verstand jetzt gar nichts mehr.
»Alica kennt sich in deinem Gewerbe ein wenig aus …«
»He!«, sagte Alica.
»– wenn auch nicht so, wie es sich jetzt vielleicht anhört«, fuhr Pia ruhig fort. »Eher von der … administrativen Seite, wenn du verstehst, was ich meine.«
»Ja«, sagte Malu und schüttelte heftig den Kopf.
»Warum sagst du ihr nicht einfach, dass ich ihr helfen kann, ihren Laden auf Vordermann zu bringen?«, fragte Alica.
»Genau das versuche ich ja«, antwortete Pia ärgerlich.
»Was versuchst du?«, fragte Malu misstrauisch.
»Einen Weg zu finden, der für uns beide von Vorteil ist«, antwortete Pia. »Ich werde bestimmt nicht für dich arbeiten. Schon gar nicht diese Art von Arbeit.«
»Ich könnte dich zwingen«, erwiderte Malu unverblümt. Auch noch die allerletzte Spur des Lächelns war mittlerweile von ihrem Gesicht verschwunden.
»Mit Gewalt?« Pia schüttelte den Kopf. »Kaum.«
»Du wirst bei deinem Aussehen keine andere Arbeit finden«, sagte Malu, ohne direkt auf ihre Frage einzugehen. »Und dabei wird dir dein albernes Kopftuch auch nicht viel helfen. Du musst essen und du brauchst ein Dach über dem Kopf. Wie willst du das alles bezahlen, ohne Arbeit?«
»Ich habe auch schon darüber nachgedacht, weißt du? Vielleicht hast du recht, und mir bleibt tatsächlich nichts anderes übrig, wenn ich nicht verhungern will.« Pia machte ein bekümmertes Gesicht, und in Malus Augen erschien schon wieder ein gieriges Funkeln.
»Aber wenn ich das schon muss, was sollte mich daran hindern, ein eigenes Geschäft aufzumachen, statt für dich zu arbeiten?«, fuhr Pia nach einer ganz genau bemessenen Pause fort.
Malu blinzelte. Eine Sekunde lang wirkte sie schockiert, aber dann schüttelte sie nur umso heftiger den Kopf. »Was für ein Unsinn. Istvan würde das nie und nimmer zulassen.«
»Du meinst denselben Istvan, den du gar nicht kennst?«, fragte Pia. »Nun, es käme auf einen Versuch an, nicht wahr? Vor allem, wenn ich ihm und den Männern seiner Stadtwache einen Sonderpreis machen würde … aber keine Sorge, ich habe nichts dergleichen vor. Es sei denn – wie hast du es gerade selbst genannt? –, ich hätte keine andere Wahl.«
Malus Augen wurden schmal. »Was willst du?«
»Dir ein Angebot machen.« Sie deutete erneut auf Alica. »Lass meine Freundin dich beraten. Ich verspreche dir, dass sich dein Umsatz verdoppelt, wenn du auf sie hörst. Glaub mir, sie versteht etwas davon.«
»Sie spricht ja nicht einmal unsere Sprache!«, schnaubte Malu.
»Lass sie einfach eine Nacht hier. Wenn du mit ihren Vorschlägen nicht zufrieden bist, dann musst du ja nichts zahlen.«
»Zahlen?«, wiederholte Malu schockiert.
»Wenn sich dein Umsatz verbessert, reden wir über eine angemessene Vergütung. Keine Sorge, wir sind nicht gierig.«
»Ich schon«, sagte Alica.
»Das ist lächerlich!«, sagte Malu. Aber sie klang schon nicht mehr ganz so überzeugt wie bisher, und Pia spürte, dass sie gewonnen hatte. Wenigstens für den Moment. Und wenn Alica wirklich wusste, was sie tat.