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»Lass sie einfach heute Nacht hier«, wiederholte sie. »Keine Sorge, sie wird den Betrieb nicht stören. Sie will sich nur dein Geschäft ansehen und dir vielleicht ein paar Vorschläge machen. Ich komme später zurück und wir reden darüber. Ganz unverbindlich.«

»Zurück?«, fragte Malu. »Du willst wieder hinaus auf die Straße? Es ist bereits dunkel!«

»Ich fürchte mich nicht vor der Dunkelheit«, sagte Pia leichthin. »Und keine Angst, ich bin durchaus in der Lage, auf mich aufzupassen. Aber du kannst mich gerne begleiten, kein Problem.«

»Dich begleiten?«, fragte Malu misstrauisch. »Wohin?«

»Ich habe noch etwas zu erledigen«, antwortete Pia. »Aber es wird nicht allzu lange dauern. In ein paar Stunden bin ich zurück. Möchtest du, dass Alica so lange hierbleibt und sich ein wenig umsieht, oder sollen wir wieder gehen?«

»Mir bleibt ja wohl keine andere Wahl«, sagte Malu spröde.

»Stimmt«, antwortete Pia. Sie wandte sich nun direkt an Alica. »Dann komme ich zurück, sobald ich kann.«

»Schlimmstenfalls auf einem fliegenden Einhorn«, antwortete Alica, wurde aber sofort wieder ernst. »Mir wäre es lieber, wenn du gar nicht gehen würdest.«

»Dann bis später«, sagte Pia, diesmal zu Malu, drehte sich rasch um und verließ das Zimmer, bevor Alica noch Gelegenheit finden konnte, einen weiteren Einwand vorzubringen, möglicherweise einen, den sie nicht so leicht entkräften oder einfach ignorieren konnte. Ein halbes Dutzend neugieriger Gesichter starrte ihr vom unteren Ende der Treppe aus entgegen, aber niemand hatte den Mut, ihr den Weg zu vertreten oder sie gar aufzuhalten. Ungehindert erreichte sie die Tür, trat hindurch und schlug in der gleichen Bewegung ihre Kapuze hoch, in der sie auf die Straße hinaus- und praktisch sofort in den nächsten Schatten trat.

So weit der leichtere Teil. Hoffentlich.

Pia verharrte eine geraume Weile reglos im Schatten und sah zur Tür des Elfenturms hin, doch diese blieb geschlossen. Niemand kam heraus, um sie zu verfolgen.

Sie überlegte kurz, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war, kam aber zu keinem eindeutigen Ergebnis und tröstete sich schließlich damit, dass Alica selbst auf sich aufpassen konnte. Wenn sie sich um jemanden Sorgen machen sollte, dann vermutlich eher um Malu.

Ihr Blick tastete über die Fassaden der Häuser. Nur hinter sehr wenigen Fenstern brannte noch Licht. Hier in WeißWald gingen die Leute früh zu Bett – einmal abgesehen von einigen wenigen Ausnahmen, wie man sie an jedem Ort und zu allen Zeiten findet –, und sie war auch fast sicher, dass niemand Alica und sie gesehen hatte. Trotzdem wartete sie noch etliche Minuten reglos, bis schließlich das Geräusch schwerer, gleichmäßiger Schritte an ihr Ohr drang. Wenige Augenblicke später tauchten zwei bewaffnete Gestalten auf der anderen Seite der schmalen Straße auf und gingen langsam vorüber. Genau in Höhe des Elfenturms blieben die Männer stehen und debattierten einen Moment miteinander, setzten ihren Weg aber schließlich fort. Pia atmete erleichtert auf. Das hätte ihr noch gefehlt, dass die Wache ausgerechnet jetzt auf die Idee kam, auf ein Schäferstündchen bei Malu einzukehren. Wenn Alica erst einmal Gelegenheit gehabt hatte, sich umzusehen und den einen oder anderen Verbesserungsvorschlag zu machen (oder auch gleich in die Tat umzusetzen), würde Malu sich bestimmt von ihren Qualitäten überzeugen lassen; doch zornig und frustriert, wie sie im Augenblick vermutlich noch war …

Aber der gefährliche Moment war vorüber. Die Wache setzte ihren Weg fort, und Pia gab noch einmal eine Minute zu, bevor sie aus ihrem Versteck schlüpfte und in die entgegengesetzte Richtung davonhuschte.

XXI

Obwohl sie den Weg nicht zum ersten Mal ging, kam er Pia diesmal nicht nur weiter vor, sie brauchte auch deutlich länger, um die Entfernung bis zum Turm des Hochkönigs zurückzulegen, denn sie blieb immer wieder stehen, um zu lauschen und ihren Blick aufmerksam über die Fassaden der dunkel daliegenden Häuser und die noch dunkleren Fenster tasten zu lassen, obwohl ihr Verstand ihr sagte, dass das ganz und gar nicht notwendig war. Die guten Leute in den Häusern ringsum schliefen längst, und die nicht ganz so guten gingen ihren eigenen Geschäften nach. Pia hätte gespürt, wenn irgendjemand sie beobachten würde. Und sollte jemand dumm genug sein, sie überfallen zu wollen … nun, sie hatte immer noch ihre Pistole und zehn Schuss im Magazin.

Genau wie beim ersten Mal zögerte sie unmerklich, als sie die freie Fläche vor dem Turm erreichte. In der Nacht wirkte der Anblick beinahe noch unheimlicher, und für einen ganz kurzen Moment meldete sich ihre Vernunft zurück, die hartnäckig nicht nur darauf bestand, dass sie dort oben rein gar nichts finden würde außer eben einem verschlossenen Tor – und sollte es ihr tatsächlich gelingen, irgendwie in dieses alte Gemäuer hineinzukommen, vermutlich nichts als Staub, Spinnweben, unzählige leer stehende Räume und noch mehr Staub und Spinnweben.

Aber wen interessierte schon die Stimme der Vernunft? Hätte diese etwas zu sagen, dann wäre Pia gar nicht hier.

Sie schob ihre Bedenken mit einer bewussten Anstrengung beiseite und sah sich noch einmal sichernd um, dann huschte sie geduckt und sehr schnell über den vollkommen deckungslosen Streifen zwischen den letzten Gebäuden und der Brücke, bevor sie sich hinter die hüfthohe Mauer duckte. Mit angehaltenem Atem lauschte sie, doch da war nichts. Rings um sie herum herrschte eine fast schon gespenstische Stille. Diesmal hatte sie niemand gesehen. Vermutlich ließen selbst die Wachen diesen Teil der Stadt auf ihren nächtlichen Patrouillen aus. Pia konnte es ihnen nicht verdenken. Auch ihr machte dieses Monstrum aus Stein gewordener Schwärze Angst.

Aber wenn sie auch nur die geringste Chance haben wollte, jemals wieder nach Hause zu kommen, dann musste sie dorthin, so einfach war das.

Sie blieb noch weitere endlose Atemzüge wie zur Salzsäule erstarrt im Schatten der Mauer hocken – wie sie sich selbst weiszumachen versuchte, um wirklich sicherzugehen, von niemandem beobachtet zu werden, in Wahrheit aber aus keinem anderen Grund als dem, ihre Angst zu überwinden –, bevor sie sich erhob und geduckt die vierzig oder fünfzig Schritte bis zum eigentlichen Tor zurücklegte. Mit schon wieder heftig klopfendem Herzen erreichte sie es, blieb stehen, legte den Kopf in den Nacken und erlebte eine weitere Überraschung.

Doch sie konnte beim besten Willen nicht sagen, ob sie angenehm war.

Die Nacht war ebenso dunkel wie der Tag hell, an dem sie das erste Mal hier gewesen war, und trotzdem konnte sie das gemeißelte Steingesicht des tausend Jahre alten Hochkönigs genauso deutlich erkennen. So unheimlich und Licht verzehrend, wie der schwarze Stein im hellen Sonnenlicht ausgesehen hatte, schien er jetzt das blasse Sternenlicht zu reflektieren, mehr noch: Es schien fast, als leuchte der schwarze Basalt wie unter einem geheimnisvollen inneren Feuer. Die steinernen Pupillen starrten so mitleidlos und kalt wie seit einem Millennium auf sie herab, und Pia fiel abermals und noch sehr viel deutlicher die Ähnlichkeit mit ihrem geheimnisvollen Retter auf. Vielleicht war es nicht genau dasselbe Gesicht. Ganz bestimmt war es nicht genau dasselbe Gesicht, aber die Ähnlichkeit war dennoch frappierend. Wenn dieses Relief nicht den Mann zeigte, der sie zweimal vor Hernandez gerettet hatte, dann seinen Vater, Bruder oder einen anderen sehr nahen Verwandten.

Pia schüttelte diesen ebenso unsinnigen wie im Moment ganz und gar nicht hilfreichen Gedanken ab, riss ihren Blick mit großer Anstrengung von den gemeißelten Elfenaugen los und konzentrierte sich stattdessen auf das Tor. Das praktisch nicht vorhandene Licht, das sie bisher so zuverlässig beschützt hatte, erwies sich nun als Nachteil. Das gewaltige Tor war wenig mehr als eine Wand aus ineinanderfließenden Schatten. Der seltsame Leuchteffekt beschränkte sich leider nur auf das gemeißelte Gesicht des Hochkönigs, und das riesige Schloss war praktisch unsichtbar. Doch auch wenn es das nicht gewesen wäre, was hätte es ihr genutzt? Sie hatte keinen Schlüssel. Niemand hatte einen Schlüssel. Den hatte jemand vor gut tausend Jahren verbummelt.