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Das Boot schwang sanft von der Uferbefestigung fort. Der Fremde hatte offensichtlich die Heckleine gelöst.

Adrien drückte die Arme durch und zog sich ein Stück in Richtung des Verschlags, als der Vorhang ganz zurückgeschlagen wurde. Im Dunkel sah er nur den Schattenriss des Mannes. Er ging gebeugt. Ein breitkrempiger Hut verbarg sein Gesicht. Er hatte etwas an sich, das Adrien angst und bange werden ließ.

Ohne groß Notiz von ihm zu nehmen, schlurfte der Alte an ihm vorbei und löste auch noch die Bugleine. Er stieß das Boot mit einer Stange vom Kai ab und manövrierte es in die Mitte des Stroms. Sie glitten unter dem Brückenbogen hindurch und trieben mit der Strömung nach Süden.

Adrien schob sich Zoll um Zoll dem Verschlag entgegen. Sein Stöhnen war das einzige Geräusch an Bord. Er spürte den Blick des Schiffers im Nacken. Er nahm an, dass der Mann alt war, weil er sich so schwerfällig bewegt hatte.

Die Lichter von Nantour waren im Dunkel der Nacht verschwunden, als er endlich den Verschlag erreichte. Dort stand eine eiserne Schale auf einem niedrigen Dreifuß.

Ein paar Holzkohlen flackerten in ersterbender Glut. Adrien blies sie an und streckte die zitternden Hände so weit vor, dass sie fast die Kohlen berührten. Er beugte sich zurück und zog die Wolldecke vor den Eingang, um die Wärme besser im Verschlag zu halten. Der mattrote Schein der Kohlen reichte nicht, um das Dunkel aus der Bootskammer zu vertreiben. Tastend fand Adrien noch ein paar Kohlen und ein Stück Treibholz. Er blickte zweifelnd zur gewölbten Decke aus geflochtenem Schilf. Er sollte besser nicht riskieren, dass eine Flamme aus dem Feuer schlug. Mehr als ein paar Kohlen nachzulegen wäre leichtfertig.

Plötzlich wurde er sich bewusst, dass der kleine Lastkahn keine Fahrt mehr machte.

Müde Schritte schlurften über Deck. Die Wolldecke wurde zurückgeschlagen, und der Schiffer kauerte sich neben ihn. Der Verschlag war unbehaglich eng. Der Alte streifte ihn. Trotz des Rauchs roch Adrien den Gestank von abgestandenem Schweiß.

»Bruder Jules hat...«

»Ich weiß«, unterbrach ihn der Alte. Dann griff er nach Adriens Füßen. Die Finger des Schiffers waren eisig und hart wie alte Wurzeln. Er begann mit beiden Händen die Füße zu massieren. Zunächst spürte der Junge kaum etwas. Doch als das Blut wieder besser zirkulierte, wurde ihm bewusst, wie viel Kraft in diesen Händen steckte. Jeder Fußknochen schmerzte, so fest drückten die Finger ins Fleisch.

»Bist ein bisschen zimperlich, nicht wahr?«

Adrien sagte nichts, obwohl ihm Tränen in den Augen standen, als der Alte endlich aufhörte.

»Wohin bringst du mich?«, stieß er endlich hervor.

»Flussabwärts.«

»Wer …«

Der Alte stand auf. »Ich hab den Kahn an den Wurzeln einer Eiche vertäut. Ich muss zurück nach vorn. Wir haben noch ein gutes Stück Weg vor uns«, schnarrte er mit heiserer Stimme. »Du findest im Sack neben dir ein paar Äpfel. Und deine Wurst. Iss und schlaf dann.« Das matte Glühen der Kohlen beleuchtete das Gesicht des Alten, als er sich kurz vorbeugte, um auf den Sack zu deuten. Und jetzt begriff Adrien, was ihm von Anfang an so unheimlich vertraut vorgekommen war. In Blei gegossene Glücksbringer schimmerten in stumpfem Grau am Hutband. Ein faltiges, fast fleischloses Gesicht blickte auf ihn herab. Das Gesicht des Bettlers, der am Stall des Süberstricks gekauert hatte. Das Gesicht eines Toten!

Der Wille der Königin

»Verdammt, Mädchen! Ein warmer Furz von mir hat mehr Verstand, als in deinem Dickkopf steckt. Du kannst das nicht machen! Du bist die Königin!«

»Wenn es so ist, würde sich vielleicht ein warmer Furz von dir besser auf dem Thron machen.«

Sie würde nicht nachgeben, das wusste Lambi. Genauso gut könnte er auf einen Felsbrocken einreden. Er musste eine weiche Stelle finden. Einen Punkt, an dem er sie treffen könnte. Sie stand in der Tür der kleinen Hütte, die sie bewohnte. Sie war eine merkwürdige Königin. Er kannte Landarbeiter, die ein besseres Leben führten als sie.

Er versuchte an ihr vorbeizusehen. Glühende Holzscheite lagen in einer Grube in der Mitte des einzigen Zimmers. Er sah Späne auf dem Boden liegen und ein Brett mit einer aufwendigen Schnitzarbeit. Sie arbeitete an einer Wiege. Er wusste das. Wie lange würde sich ein Weibsbild auf dem Thron halten, das Wiegen zimmerte? Was würden die anderen Jarls davon halten, wenn sie es wüssten? Die Gerüchte um den Mann, der angeblich bei ihr lebte, waren schon schlimm genug.

»Mein Enkelsohn ... «, begann er und bemühte sich um einen versöhnlichen Tonfall.

»Warum gehst du davon aus, dass es ein Sohn wird? Diese Trollschamanin sagte, es würde ein Mädchen. Hast du das schon vergessen?«

Er hatte es tatsächlich vergessen. Was wussten schon Trolle! Aber er würde jetzt nicht mit ihr streiten. Er würde sich zusammenreißen! »Das Kind. Du kannst in deinem Zustand nicht einfach nach Norden gehen. Nicht jetzt.«

»Gerade jetzt«, beharrte sie. »Die Seen und Flüsse sind zugefroren. Wir werden viel schneller vorankommen.«

»Genau. Und eure Spuren im Schnee könnte selbst ein halbblinder Troll nicht übersehen. Verdammt nochmal, führ dich nicht auf wie ein bockiges Kind. Du bist die Königin! Steckt denn kein Funken Vernunft in dir?«

Kadlin lächelte ihn auf eine Art an, die ihn das Schlimmste befürchten ließ. »Du wirst mich vertreten, Lambi. Sollte ich nicht zurückkommen, dann hast du Gelegenheit, alles besser zu machen als ich. Mir wäre es nur recht. Ich habe diesen Thron nie gewollt.«

So war es mit ihrem Vater auch gewesen. Der alte Fjordländer dachte an das Krönungsfest im Trollwinter zurück. In einer jämmerlichen Scheune hatten sie Alfadas zum König ausgerufen. Aber er war Manns genug gewesen, sich zu stellen. Lambi maß Kadlin mit Blicken. Man sah ihr noch nicht an, dass sie ein Kind unter dem Herzen trug. Man sah ihr auch nicht an, dass sie Königin war. In ihrem Aufzug mit Stiefeln, lederner Hose und einem mit Lammfell gefütterten Wams sah sie aus wie eine Jägerin.

Nur dass es Jägerinnen eigentlich gar nicht gab. Im Fjordland wussten Frauen, wo ihr Platz war. Nur diese eine nicht, ihre verdammte, dickköpfige Königin. Dieses Mannweib, das seinem Sohn den Kopf verdreht hatte. Björn war tot, gefallen in den Kämpfen bei der Nachtzinne. Und nun hatte er mit dem Weib zurechtzukommen, das seinen Enkelsohn gebären würde. Und es würde ein Junge werden! Ganz gleich, was sie sagte. Das konnte er ihr ansehen. So dickköpfig wie sie war auch Svenja gewesen, bevor sie Björn gebar. Kadlins Sturheit war ein sicheres Zeichen dafür, dass sie einen Jungen bekommen würde!

Wie auch immer. Wenn er schon nicht zu ihrer Vernunft durchdrang, dann würde es ihm vielleicht gelingen, ihr Verantwortungsbewusstsein zu wecken. »Dieses Trollweib hat dir Frieden versprochen. Es war ein Geschenk dafür, dass du zu den Toten gegangen bist ... « Er stockte. Allein die Erinnerung daran jagte ihm Schauder über den Rücken. Ihr Mut stand völlig außer Frage. Es wäre nur schön, wenn außer Mut auch ein wenig Verstand da wäre. »Der Fürst der Nachtzinne wartet nur darauf, dass du ihm einen Grund lieferst, einen Krieg anzufangen. Der Kerl will Rache.«

Kadlin senkte zum ersten Mal, seit er an ihre Türe geklopft hatte, den Blick. Das war ein gutes Zeichen.

»Wir haben die Schiffe nicht verbrannt. Wir hatten keinen Anteil an ... «

»Er ist ein Troll. So denkt er nicht. Wir waren dabei, als es geschah. Wir haben es nicht verhindert. Gib ihm einen Grund, und er wird seinen glühenden Zorn in Strömen von unserem Blut kühlen.«

»Ich werde nicht mit einem Heereszug in sein Land einfallen. Wir sind wieder fort, bevor uns ein Troll gesehen hat.«

»Uns?«

»Ich werde einen Begleiter haben.« Sie sagte das in einem Tonfall, der deutlich machte, dass er auf weitere Fragen keine Antwort erwarten durfte.