Alyselle ging dem Schwertmeister entgegen. Er hob drohend die Hand. Sie schnappte nach Emerelles Fuß. Goldenes Licht brach aus der Königin. Zäh. Honigartig. Und unbeschreiblich köstlich. Wie eine Hyäne an ihrem Aas zerrte sie daran.
Schlangengleich wand sich das Licht zwischen ihr und Emerelle.
Alyselle konnte den Boden unter ihren Füßen spüren. Ihre Wahrnehmungen veränderten sich.
Mit einem Schrei stieß Ollowain seine Hand in ihren Leib.
Flammender Schmerz durchfuhr sie. Sie zuckte zurück. Er hielt etwas in der Hand.
Einen Metallsplitter!
Wütend schnappte sie nach seinem Arm. Doch er wich mit unglaublicher Geschicklichkeit aus und stach erneut mit dem Splitter zu. Kleine Blitze spielten um das Metall, als es durch ihren Leib schnitt.
Sie versuchte sein Bein zu packen. Wieder war er schneller und stieß zu. Der Schmerz ließ sie zurückweichen. Was war das? Skanga hatte ihr doch versprochen, dass keine Waffe sie verletzen könnte!
Ollowain kniete nieder. Ohne sie aus den Augen zu lassen, hob er Emerelle auf und legte sie sich über die Schulter. Mit der Linken hielt er immer noch den Splitter auf sie gerichtet. Woher hatte er dieses verdammte Stück Metall? Das war ja nicht einmal eine richtige Waffe!
Der Schwertmeister ging auf das magische Tor zu. Er wollte auf diesem Weg flüchten.
Die Bestie bedrängte sie. Das Ungeheuer wollte losstürmen, aber sie sah nur das Metallstück, mit dem sie verletzt worden war. Sollte er doch ins Goldene Netz treten.
Da würde sie sie alle erwischen. Es war verrückt, durch ein so instabiles Tor zu gehen.
Sie würden in die Zukunft geschleudert werden. Aber ihr würde es nicht schaden. Sie hatte schon alles verloren. Sie konnte nur noch gewinnen. Und sie war entschlossen, sich Emerelle zu holen!
Mit einem barschen Ruf scheuchte der Schwertmeister den Lutin auf. Der Fuchsmann zögerte. Dann blickte er in ihre Richtung.
Komm, bleibe!, dachte sie gehässig. Dein kleines Lebenslicht ist nur ein Happen.
Fluchend trat der Lutin durch das Tor. Ollowain folgte ihm auf dem Fuß.
Alyselle sprang los. In Gedankenschnelle war sie durch das Tor. Etwas packte sie! Ein fremder Zauber! Sie wurde nach vorne gezerrt. Das Gold des Albenpfades wurde zu gleißendem Licht, das sie mit sich riss.
Was stimmte hier nicht? Sie wurde vorwärtsgezogen, ohne dass sie eine Möglichkeit gehabt hätte, auszubrechen. Immer weiter. Sie ahnte, dass sie durch die Zeit stürzte.
Jahrtausende flössen vorbei. Alyselle musste an die lächelnde Fremde denken mit den seltsamen Zeichen auf dem Körper. Das war eine Falle gewesen! Sie war verzaubert worden, als sie durch die Haut der Gazel enfrau gestoßen war, um deren Lebenslicht zu verschlingen.
Die Bestie in ihr bäumte sich auf. Alles verschwamm in weißem Licht. War das das Ende der Zeit?
Sieben Jahre später …
Der Maulwurfsritter
Adrien duckte sich unter dem Schwerthieb weg, blockte einen Rückhandschlag mit dem Schild, noch bevor der neue Angriff an Wucht gewann, und rammte Jules den Schild und dessen eigenes Schwert gegen die Brust. Der Priester wich zurück, strauchelte aber keineswegs. Er schien in sieben Jahren um keinen Tag gealtert zu sein.
Ganz im Gegenteil. Auch er schien durch die täglichen Übungen an Kraft und Geschicklichkeit gewonnen zu haben.
Er fing sich, täuschte einen Schwertstoß auf Adriens rechten Fuß an, wechselte überraschend die Richtung und zielte auf seinen Schritt. Der Junge rammte die Klinge mit einem Stoß mit der Schildkante zu Boden und berührte mit seinem Schwert Jules’
Nacken. »Du bist tot, Meister.«
Jules ließ schnaufend Schild und Schwert fallen. Er wischte sich mit der Hand über die schweißnasse Stirn. Dann ließ er sich auf einem der Schutthügel nieder.
»Das war das erste Mal, dass ich bei einer Übung drei tödliche Treffer geschafft habe!«
Es gelang Adrien nicht, den Triumph in seiner Stimme zu verbergen. Sechs Jahre hatte er üben müssen, bis es ihm überhaupt einmal gelungen war, Jules zu treffen. Aber in den letzten Wochen wurde er endlich besser und besser.
»Und was heißt das?«, entgegnete der Priester mürrisch. »Hältst du dich für einen Ritter, weil du es schaffst, einen alten Mann zu besiegen?«
»Bei allem Respekt, Meister, aber du bist nicht alt.«
Der Priester lächelte in sich hinein, wie er es oft tat. »Bei allem Respekt, mein Schüler, aber du hast keine Ahnung. Also fassen wir einmal zusammen. Was kannst du?«
»Du hast mich gelehrt, dass es unziemlich ist, mit seinem Können zu prahlen.«
»Und was war das mit dem Jubelgeschrei, dass du mich dreimal tödlich getroffen hast?«
»Eine nicht ganz sachlich vorgetragene Tatsache«, entgegnete Adrien grinsend.
»Wenn ich dich so höre, läuft es mir eiskalt den Rücken herunter. Mir scheint, ich habe hier einen Prediger herangezogen, der einem das Wort im Munde verdreht, und keinen Ritter.«
»Das sagst du mir bestimmt schon zum hundertsten Mal. Mir scheint, du bist ein schlechter Lehrer, wenn bei mir einfach keine Besserung eintritt.«
»Und mir scheint, aus dir einen Ritter zu machen, ist so aussichtslos, wie mit blanker Faust aus einem Felsblock eine Statue herausmeißeln zu wollen. Aber fassen wir einmal zusammen, was du gelernt hast. Du kannst lesen und schreiben und sogar schlechte Verse verfassen. Du packst dein Schwert nicht mehr an wie ein Bauer eine Mistforke und bist sogar in der Lage, bei einem alten Mann in anderthalb Stunden Übungskampf drei Treffer zu landen. Aber mach dir keine Illusionen! Solltest du jemals auf einen Elfen treffen, der auch nur halbwegs begabt im Schwertkampf ist, dann wärst du tot, bevor du auch nur deinen vollständigen Namen sagen könntest, Michel Sarti.«
In all den Jahren hatte Adrien sich noch immer nicht ganz an diesen neuen Namen gewöhnt. Auch hatte er Zweifel, dass er tatsächlich der illegitime Sohn dieses Ritters war. Allerdings akzeptierte er, dass dieses Spiel zu Jules’ Regeln gehörte. Schon vor Jahren hatte er sich abgewöhnt, dazu etwas zu sagen. Für die Welt jenseits des Tales würde er Michel Sarti sein. Aber in seinem Herzen war er Adrien.
»Wann ist meine Ausbildung beendet? Wenn du über meine Kenntnisse sprichst, dann hört es sich an, als sei das nichts, aber wie viele Ritter gibt es, die lesen und schreiben können?«
»So wenige, dass ich darauf achten werde, dass du gut genug bist, nicht gleich vom ersten Dummkopf erschlagen zu werden, der, statt sich zu bilden, den ganzen Tag mit Kampfübungen verbracht hat.«
Adrien seufzte. »Ich glaube, für dich werde ich nie gut genug sein. Du willst mich gar nicht weglassen.«
»Ich gebe zu, ohne dich wird es hier in den Bergen vermutlich recht einsam werden.«
Jules erhob sich. »Ich kann verstehen, dass du fort möchtest. Du bist längst ein junger Mann. Manchmal sorge ich mich, dass du zu gut für die Welt jenseits dieses Tals bist.
Dort herrscht ein König, der abgrundtief böse ist. Ein Mann völlig ohne Moral. Du bist in allem das genaue Gegenteil von ihm. Das allein könnte ihm als Grund genügen, dich zu töten.«
»Du hast dafür gesorgt, dass es nicht ganz leicht werden wird, mich umzubringen.«
»Leider scheine ich dir bei unseren Kampfübungen zu oft auf den Kopf geschlagen zu haben. Glaubst du allen Ernstes, du seist bereit, ein ganzes Königreich herauszufordern? Allein?«
»Ich lass den alten König in Ruhe. Ich will nichts von ihm!«
Jules schüttelte den Kopf. »Begreif doch, Junge. Er wird dich nicht in Frieden lassen.
Weil du so bist, wie du nun einmal bist, wird er von dir hören. Und er wird dich nicht in Frieden lassen. Vertrau mir, Junge!«
Adrien stieß ärgerlich sein stumpfes Übungsschwert in einen der Geröllhaufen. Jules würde ihn niemals ziehen lassen, denn dieser verfluchte König Cabezan schien unsterblich zu sein. Er war längst älter, als es sich für einen Menschen geziemte. Jedes Mal, wenn Jules für ein paar Tage den Steinernen Wald verließ, kam er mit neuen Schreckensgeschichten über den König zurück.