Ihr Seidenhändler hatte nie daran gezweifelt, dass sie ein harmloses Fischermädchen war. Manchmal hatte er freundlich über ihre mangelnde Bildung gespottet. Aber er hatte sie nie verletzt. Er hatte sie wirklich geliebt, dachte Elodia bitter, und sie hatte diese Liebe verraten. Es war von Anfang an ihr Ziel gewesen, den Hohen Priester Promachos auf sich aufmerksam zu machen. Er war die treibende Kraft hinter dem Flottenbau in Iskendria. Er hatte Frieden mit den Piratenfürsten der Aegilischen Inseln geschlossen. Zum ersten Mal hatte sie Promachos auf dem großen Fest zu Ehren der Seegöttin Bessa gegenüberge-standen. Er hatte sie mit den Augen verschlungen. Es war offensichtlich gewesen, dass er schon von ihr gehört hatte. Sie hatte erschrocken und schüchtern getan. Das hatte ihn nur noch mehr angestachelt.
Elodia war sich ganz sicher, dass die Einladung auf den Maskenball im Haus der berüchtigten Kaufherrin Sem-la nur auf den Wunsch von Promachos erfolgt war. Sem-las Haus schien wie von Magie durchdrungen zu sein. Ihre Feste waren berühmt und berüchtigt. Oft hatte Elodia von den Ausschweifungen munkeln hören, die jede Feier begleiteten. Und vom Glanz der Feste. Dort raubte Promachos ihr einen ersten Kuss. Er war verschleiert wie die Tearagi, jene räuberischen Wüstennomaden, die dem Karawanenhandel so sehr zusetzten. Nach kurzem, gespielten Zögern hatte sie den Kuss erwidert und mehr ... Das Haus der Sem-la war voller verborgener Winkel und Nischen. Und sie waren nicht das einzige Paar, das sich von den Feierlichkeiten zurückgezogen hatte, um ein eigenes, intimeres Fest zu begehen.
Am nächsten Morgen waren Tempelwachen ins Haus ihres Seidenhändlers gekommen. Sie hatten ihn aufgefordert, die Sklavin Danae aus Zeola an den Tempel des Baibar zu überstellen. Jede Familie in Iskendria fürchtete diese Besuche.
Gewöhnlich kamen die Tempelwachen, um auserwählte Opfer für den Gott zu fordern, meist Kinder. Aber manchmal wurden auch ein schöner Jüngling oder eine junge Frau verbrannt. Dass dieser Besuch einen ganz anderen Grund haben könnte, war ihrem Seidenhändler gar nicht in den Sinn gekommen. Er hatte sich schützend vor sie gestellt, hatte gedroht und gebettelt. Vergebens. Und dann hatte er den einen unverzeihlichen Fehler gemacht. Er hatte den kleinen Schmuckdolch an seinem Gürtel gezogen. Die Tempelwachen waren erfahrene Krieger. Ein Händler mit einem Dolch in der Hand war keine Bedrohung für sie. Aber sie hatten es als eine Beleidigung Baibars aufgefasst. Als sie Elodia vor Promachos geführt hatten, war der Saum ihres Kleides vom Blut des Seidenhändlers benetzt gewesen.
Der Priesterfürst hatte sie noch am selben Morgen in sein Bett geholt. Es dauerte zwei Monde, bis sie nicht nur seine Favoritin war, sondern alle anderen Lustsklavinnen aus dem Palast verschwanden. Sie wollte ihn für sich allein. Er sollte ihr ganz und gar verfallen.
Ihre Lehrer auf dem Möns Gabino hatten große Sorgfalt darauf verwandt, ihr den Hintergrund ihrer Mission zu erläutern. Stunden um Stunden hatte Elodia vor einer Reliefkarte verbracht und die Namen von Inseln und Städten gelernt. Dann die Namen von Priestern, Fürsten und Feldherren. Kleine bunte Schiffchen auf dem Plan zeigten, wie schwach die Flotte Fargons war. Und wie übermächtig die Piratenflotten der Aegilischen Inseln sowie die neue Flotte, die auf Befehl des Priesters Promachos in Iskendria auf Kiel gelegt wurde. Ihre Aufgabe war es, ins Bett von Promachos zu gelangen, um von dort aus Fargon zu dienen.
Wieder blickte Elodia zu dem Schlafenden. Sein Schlummer nach der Liebe dauerte nie sehr lange. Draußen vor der mächtigen Flügeltür standen zwei Tempelwachen, keine zehn Schritt entfernt. Beim geringsten verdächtigen Laut würden sie ins Zimmer stürmen.
Vor sieben Monden schon hatte sie den Dolch versteckt, der das Leben des Priesters beenden würde. Ein Fischermesser von den Aegilischen Inseln. Ihre Lehrer hatten ihr sogar beschrieben, auf welche Weise sie ihn töten sollte und was sie noch zu tun hätte, wenn er schon tot war. Seine Ermordung musste spektakulär sein. Ein Ereignis, das nicht schnell in Vergessenheit geriet. Es sollte nicht nur zum Bruch des Bündnisses mit den Piratenfürsten der Aegilischen Inseln führen.
Cabezan wünschte, dass die beiden mächtigsten Flotten der Welt einander bekämpften. Ihr König fürchtete, dass die Priester und die Piraten sonst ihre Hand nach der neuen Provinz Marcilla ausstrecken würden. Und tatsächlich hatte Promachos ihr im Bett davon erzählt, dass einige der Küstenstädte Fargons besetzt werden sollten. Die Priester wollten feines Leinen, Parfüm und Färbemittel nicht mehr einkaufen, sondern die Städte, in denen die Luxusgüter hergestellt wurden, tributpflichtig machen.
Zehntausend Schwerter würden nicht ausreichen, die Macht der Priester und der verbündeten Piraten aufzuhalten, hatten ihr ihre Lehrerinnen auf dem Möns Gabino immer wieder eingebläut. Doch ein einziger Dolch konnte in dieser Nacht vollbringen, wozu die Ritterheere Fargons nicht in der Lage wären.
Sie tastete über die Fensterbank. Sie hatte die Platte gelockert und unter ihr einen Stein aus dem Mauerwerk gelöst. In dieser Höhlung verborgen ruhte das Schicksal ihrer Heimat. Elodia blickte auf den Hafen hinab. Ein Wald von Masten ragte dort empor.
Aus der ganzen Welt kamen Schiffe hierher. Waren stapelten sich auf den Kaimauern.
In der Mittagshitze war es dort ein wenig ruhiger. Der Himmel war von klarem Blau.
Sie schob die Hände unter die schwere Steinplatte und versuchte sie zu heben. Doch sie bewegte sich nicht.
»Suchst du das Messer, das dort lag?«
Erschrocken fuhr Elodia herum. Promachos hatte sich aufgesetzt. »Vor ein paar Wochen schon habe ich bemerkt, dass der Stein locker geworden war. Der Handwerker fand ein Fischermesser von den Aegilischen Inseln. War das Patriotismus oder Dummheit?«
»Ich weiß nicht, wovon Ihr redet, Herr ...«
»Natürlich. Es war Zufall, dass du dich an dem steinernen Sims zu schaffen gemacht hast. Du stehst nur am Fenster, um den großartigen Blick auf den Hafen und die Bibliothek zu genießen, nicht wahr?«
»Herr, es ist nicht, wie es scheint...«
»Natürlich nicht! Glaubst du wirklich, du seiest so besonders im Bett, dass ich dich allen anderen vorziehe? Hast du das wirklich geglaubt? Ich habe darauf gewartet, wann du zu diesem Sims gehst. Das war die ganze Spannung. Und nun bin ich neugierig, wie lange du deine Geheimnisse für dich behalten kannst. Welcher der Piratenfürsten hat dich geschickt? Du mochtest das Tätowieren nicht ... In einer Stunde werde ich mit glühendem Eisen Muster auf deine Haut malen, Mädchen. Dann wirst du mir ein anderes Lied singen als in diesem Bett. Und ich bin sehr neugierig, es zu hören.«
Wie ein Märchen aus uralten Zeiten
Zwei Tage schuftete er nun schon wieder in der Grube, in die ihn Jules’ Traum geschickt hatte. Adrien versuchte sich in Gleichmut zu üben. Er war nun mal der Maulwurfsritter. Das Schicksal hatte ihn in die Hände des seltsamen Priesters gespielt, und er konnte nur hoffen, dass Gott ihm gnädig war, denn Jules war es nicht. Seitdem er ihn im Übungskampf so deutlich besiegt hatte, war er in bedrohliches Brüten verfallen. Er hatte nichts mehr gegessen und getrunken. Er reagierte nicht, wenn man ihn ansprach. Er behauptete, er sei nahe bei Gott, wenn er so in Trance versunken in ihrer Hütte saß. Adrien fand ihn dann besonders unheimlich. Manchmal murmelte er in fremden Zungen, ohne wirklich bei sich zu sein.