Klirrend traf die Spitzhacke auf Widerstand. Es war nicht das Geräusch von massivem Fels oder geschmolzenen Metallen. Adrien war nach all den Jahren Experte für die Geräusche, die eine Spitzhacke machte. Er kniete nieder und schob Erde und Geröll zur Seite. Bald traf er auf das unverwechselbare Rot eines beschädigten Ziegelsteins.
Endlich einmal eine Abwechslung. Ziegel waren von den Baumeistern der versunkenen Stadt nur selten verwendet worden, meist für Kanäle. In der Regel waren die Mauern, die er fand, aus behauenem Stein.
Begeistert lockerte er mit der Hacke die Erde rings um den Ziegel. Bald zeigte sich, dass er auf die gewölbte Decke eines Tunnels gestoßen war. Und er war weit größer als die Kanäle der Zisternen, die er bisher freigelegt hatte.
Eine Stunde dauerte es, bis er ganz sicher wusste, dass dieser Fund außergewöhnlich war. Durch diesen Tunnel hätte ein Fuhrwerk fahren können, so weit spannte sich die Decke. Die Steine waren gut vermauert. Der Mörtel hatte die Jahrhunderte überdauert, ohne zu zerkrümeln. Aber wo mochte der Eingang liegen? Er könnte noch Tage graben, ohne etwas zu finden. Es sei denn ... Adrien überlegte, ob er Jules holen sollte.
Doch der Priester würde ihn vermutlich gar nicht hören. Er war längst erwachsen. Er musste nicht für alles um Erlaubnis bitten! Entschlossen hob er die Spitzhacke und begann mit kräftigen Schlägen auf die Ziegel einzuschlagen. Die roten Steine waren hart wie Fels gebrannt. Es dauerte eine Weile, bis die Spitze der Hacke ins Leere stieß.
Er verkeilte das Werkzeug und hebelte weitere Steine aus dem Mauerwerk. Als das Loch groß genug war, dass er hindurchschlüpfen könnte, legte er sich flach auf den Bauch und blickte hinab. Die Sonne stand im Zenit. Er konnte den Boden erkennen. Er lag vielleicht vier Schritt tiefer. Er könnte springen.
Unentschlossen blickte Adrien zum Rand der Grube.
Sollte er nicht doch Jules holen? Nein! Ohne weiter nachzudenken, schob er die Beine durch die Öffnung und ließ sich in den Tunnel fallen. Er landete auf Steinplatten. Das Geräusch seiner genagelten Stiefel hallte von den Wänden wider. Das erste Geräusch seit vielen Jahrhunderten, das diese Mauern vernahmen.
Neugierig sah er sich um. Der Tunnel fiel leicht ab. Er schien in Richtung ihrer Hütte zu verlaufen, nur dass er sich dabei dem Herzen des Berges entgegenneigte. Was erwartete ihn dort, wo der Gang endete? Was hatte ihm Jules all die Jahre lang nicht verraten wollen? Lag dort die Schatzkammer der versunkenen Stadt? Adrien erinnerte sich noch sehr genau an den Spott des Priesters über den ersten Goldfund. Was war kostbarer als Gold, das hier verborgen lag?
Langsam gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit. Er entdeckte Bilder auf den Wänden des Tunnels. Leider hatte der Bau die Jahrhunderte nicht ganz so gut überstanden, wie er zunächst angenommen hatte. Der Putz war an vielen Stellen von den Wänden geblättert. Wasserspuren zeichneten die Mauern. Fast überall, wo der Putz noch intakt schien, wucherten zarte Gipsblumen auf den Bildern. Dennoch war zu erkennen, dass Krieger dargestellt waren. Sie scharrten sich um groß gewachsene Männer mit Tierköpfen! Einer dieser Anführer hatte einen Eberkopf mit mächtigen Hauern. Dieses Bild war ganz klar, als habe ein Zauber es vor der Zerstörung bewahrt.
Der Eber hatte himmelblaue Augen. Ihr Blick schlug Adrien in den Bann. Er kannte diese Augen! Ein Schauer überlief ihn. Das war Unsinn ... Wie sollte er ein Paar Augen kennen, das ein Künstler vor unvorstel bar langer Zeit auf diese Gipswand gemalt hatte?
Ein Luftzug drang aus der Tiefe des Tunnels. Der Junge hatte das Gefühl, dass dort etwas lauerte. Er wurde beobachtet!
Ein Krachen und Poltern ließ ihn herumfahren. Einen Augenblick setzte vor Schreck sein Herz aus. Hinter ihm lagen plötzlich mehrere Keulen auf dem Boden.
»Wer ist da?«, brachte er stockend hervor.
»Dein Retter, Ritter Hasenherz!«
Es war die Stimme von Jules. Vor Erleichterung ließ sich Adrien gegen die Wand sacken. Plötzlich schien alle Kraft aus seinen Gliedern gewichen zu sein.
»Ich frage mich ernsthaft, warum ich mich jahrelang als dein Lehrer abgemüht habe, wo du offensichtlich so viel Verstand wie eine taube Nuss hast! Hast du einen Gedanken daran verschwendet, wie du da unten wieder herauskommst?«
Adrien blickte zu der Öffnung in der Decke. Der Tunnel war fast vier Schritt hoch. Es wäre unmöglich, dort ohne Hilfe wieder hinauszugelangen.
»Was würdest du machen, wenn ich noch in der Hütte säße? Einen kleinen Spaziergang unter der Erde, um in völliger Finsternis nach einem anderen Ausgang zu suchen? Tjured hat mich gewarnt! Er hat mir eine Vision geschickt, dass der Nichtsnutz, den ich Dummkopf mir zum Schüler gewählt habe, gerade dabei ist, sich in größte Gefahr zu begeben.« Ein Seil rauschte durch das Loch.
»Mach dich nützlich! Zieh daran und prüfe, ob es das Gewicht eines Muskelprotzes mit Spatzenhirn aushält.«
Zerknirscht packte Adrien das Seil. Jules hatte den Stiel der Spitzhacke quer über die Öffnung gelegt und daran das Seil festgebunden. Adrien zog heftig daran. Anfangs ruckte die Hacke. Dann setzte sie sich zwischen den Ziegelsteinen fest. »Das hält«, sagte er kleinlaut. Zu seinen Füßen lagen Fackeln und keine Keulen, wie er irrtümlich angenommen hatte.
Jules kletterte das Seil hinab. »Und was gibt es hier unten, das es wert ist, kopflos sein Leben zu vergeuden?«
Adrien konnte ihm nicht in die Augen blicken. »Du hattest gesagt, ich solle hier graben. Dass es Tjureds Wille sei...«
Der Priester schüttelte den Kopf. »Ungestüm der Jugend ... Was wird nur aus dir werden, wenn ich dich in die Welt entlasse?« Er kniete nieder und öffnete ein Töpfchen mit Glut vom Herdfeuer ihrer Hütte. Damit entzündete er eine der Fackeln. Er hielt sie hoch über dem Kopf und sah sich um.
»Da vorne gibt es ein Bild, Meister. Das musst du dir ansehen. Es zeigt einen Mann mit Eberkopf. Mit blauen Augen. Diese Augen ... Sie sehen so echt aus! Als wären sie lebendig.«
»Dann war da wohl ein begnadeter Künstler am Werk«, entgegnete Jules wenig begeistert.
»Selbst du wirst erstaunt sein, wenn du es siehst«, beharrte der Junge. »Hier. Leuchte hierhin! Hier ist es. Es ... « Adrien starte fassungslos auf die Wand. Der Putz war abgeblättert. Vom Fresko des Mannes mit dem Eberkopf waren nur die Füße geblieben.
Jules klopfte ihm auf die Schulter. Staub und kleine Putzstückchen rieselten zu Boden.
»Hast du dich vielleicht irgendwo angelehnt?«
»Ich …«
»Tja, da übersteht so ein Bild vier Jahrtausende, und kaum betrittst du den Tunnel, da ist es dahin. Vielleicht habe ich dich zu viel mit der Spitzhacke arbeiten lassen. Dein Umgang mit Kunst lässt zu wünschen übrig.«
»Die Augen. Es sah so echt aus ... «
»Ja, ja. Ist schon gut. Hast du jemals von einem Eber mit blauen Augen gehört? Wie haben sie ausgesehen? Etwa wie meine Augen? Da ist dem Künstler die Vorstellungs-kraft durchgegangen.« Jules schnaubte verächtlich. »Ein Eber mit blauen Augen. Ein Mann mit einem Eberkopf. Also wirklich ... Vielleicht waren das ja ihre Götter. Sie scheinen den Menschen nicht gut zur Seite gestanden zu haben, wenn man sich so ansieht, was aus dieser Stadt geworden ist.« Die letzten Worte sagte er mit eigenartiger Bitternis. So als könne er das Geschick dieses Tals nicht verwinden. Ja, als sei es eine persönliche Angelegenheit.
»Komm, sehen wir, was uns erwartet.«
Als sie tiefer in den Tunnel vordrangen, fanden sie besser erhaltene Bilder. Sie zeigten riesige Städte, Drachen und marschierende Heere. Auf einem Bild entdeckte Adrien große, schwebende Kugeln, von denen dicke Seile herabzuhängen schienen. Die Seile hielten Holzplattformen, auf denen sich Krieger um Katapulte drängten.
»Was ist das?«
Jules hielt die Fackel dicht vor das Bild. »Wolkensammler aus der Zerbrochenen Welt.