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Sie ähneln am ehesten Quallen, nur dass sie unermesslich viel größer waren und durch die Luft schwebten. Sie lebten einst in einer Welt, von der nun nur noch Trümmer geblieben sind. Sie halfen den Menschen im Kampf gegen die Drachen. Die Geschütze, die du dort siehst, verschossen Speere, so dick wie der Arm eines starken Mannes.

Diese Speere vermochten die Drachen zu töten, wenn sie ihr Ziel fanden. Anders als die Drachen segelten die Wolkensammler träge mit dem Wind. Es war leicht, sie auszumanövrieren. Sie haben einen hohen Blutzoll dafür entrichtet, sich für die Sache der Menschen entschieden zu haben.«

»Woher weißt du das alles, Jules?«

»Ich habe viel Zeit in Bibliotheken verbracht und in meinem ganzen Leben noch kein einziges nennenswertes Loch gegraben.«

Die Worte verletzten Adrien. »Hältst du mich für dumm?«

»Dann hätte ich dich in jener Nacht in Nantour nicht erwählt. Horche auf die Stimme deines Herzens. Was willst du in deinem Leben sein? Ein Ritter oder ein Gelehrter?«

»Ein Ritter«, bekannte er.

Der Priester lächelte. »Das wusste ich von unserem ersten Tag an. Du hast die besten Seiten deines Vaters geerbt. Du wirst ein großer Ritter werden. Und für einen Ritter ist es in diesen Zeiten schon sehr ungewöhnlich, wenn er lesen und schreiben kann. Unter deinesgleichen wirst du als Gelehrter gelten. Das muss dir genügen. Du bist kein Mann der Bücher. Du bist ein Krieger. Deshalb bist du auch hier heruntergesprungen, ohne darüber nachzudenken, wie du wieder heraufkommen wirst. Ich kenne dich, Michel Sarti. Und ich schätze dich, auch wenn ich zuweilen ein wenig ruppig bin.«

Das Lob machte Adrien verlegen. Er betrachtete erneut das Bild mit dem Wolkensammler. »Wie groß sind sie gewesen?«

»Größer als jedes andere Tier, das es je gab. Sie waren friedliche Geschöpfe. Bis sie in den Krieg hineingezogen wurden.«

»Was ist geschehen?«

»Irgendwann waren sie nicht mehr friedlich.« Er zuckte mit den Schultern. »Und wie du ja sehen kannst, waren sie sehr groß. Und sie waren mehr als nur Tiere. Sie hatten Verstand. Sie konnten sogar zaubern. Ihre Magie speiste sich aus den Kräften des Himmels und der Sterne. Sie in den Krieg hineinzuziehen, war ein Fehler. Es war so, als werfe man im Winter leichtfertig einen Schneeball auf einen steilen Hang. Zwei Meilen tiefer ist aus dem faustgroßen Schneeball eine Lawine geworden, die ein ganzes Dorf hinwegfegt. Und vielleicht sterben dann zweihundert Unschuldige durch einen Schneeballwurf.«

Jules’ Andeutungen machte Adrien nur neugieriger, aber er kannte seinen Lehrmeister lang genug, um zu wissen, dass es keine weiteren Antworten geben würde.

Der Priester ging weiter. Adrien aber konnte seinen Blick nicht von dem Wandbild lösen. Er wünschte sich, er wäre in diesen Zeiten ein Ritter gewesen. Ein Gefährte der sieben Könige, die sich einst hier in Selinunt treffen wollten, um gegen die Drachen Albenmarks zu kämpfen. Wie es wohl war, durch den Himmel zu reiten, an Bord einer dieser großen Plattformen, die von den Wolkensammlern getragen wurden?

»Michel!« Der Priester war so weit vorgegangen, dass das Fresko fast im Dunkel verschwand. Adrien schüttelte den Kopf, um seine Tagträume zu vergessen. Diese Zeiten waren längst vorbei, und vermutlich war es gesünder, niemals einem Drachen zu begegnen. Er lief der Fackel nach. Jules hatte es plötzlich eilig. Mit weiten Schritten strebte er voran. Die Bilder an den Wänden flössen dahin. Bilder von unglaublicher Pracht und von Schlachten, bei denen marschierende Heere den ganzen Horizont ausfüllten.

Immer wieder gab es Überraschendes zu sehen. Reiter auf fliegenden Pferden. Weiß gewandete Krieger mit silbernen Gesichtern, die auf geflügelten Löwen ritten. Löwen, wie er sie vor Jahren beim Aufstieg in dieses einsame Tal als Statuen gesehen hatte.

Gerne hätte Adrien die Bilder an den Wänden näher betrachtet. Allein ihr flüchtiger Anblick ließ sein Herz schneller schlagen. Doch Jules verschloss sich gegen seine Bitten. Und er hielt die Fackel, den einzigen Lichtquell in dieser vier Jahrtausende alten Dunkelheit. Er entschied, wie lange ein Bild sichtbar blieb.

Plötzlich blieb er stehen. Der Tunnel endete in einem weiten Kuppelsaal. Jules entzündete eine zweite Fackel und reichte sie Adrien. »Dies ist der Ort, von dem ich geträumt habe. Hier wird sich dein Schicksal erfüllen. Hier wollten die Götter die sieben Könige beschenken. Doch nie hatte einer von ihnen diesen Saal betreten. Nun ist es an dir, unter diesen Geschenken zu wählen. Tjured hat mir im Traum gezeigt, dass du hierherkommen musst. Doch wenn du die falsche Wahl triffst, dann droht dir Gefahr.«

Ein großer, runder Tisch stand in der Mitte der Halle. Sieben Schwerter lagen darauf, angeordnet wie die Speichen eines Rades. Sieben wuchtige Stühle mit niedrigen Rückenlehnen standen um den Tisch. Und hinter jedem der Stühle verharrte ein Wächter. Völlig reglos.

Adriens Herz schlug rasend. All die Jahre oben im Tal hatte er davon geträumt, ein Ritter wie in einem Märchen zu sein. Und nun schien er tatsächlich in ein Märchen aus uralten Zeiten hineingeraten zu sein. Zögernd trat er in den Saal. Seine Fackel hielt er wie ein Schwert. Was sollte er den Wächtern sagen? Was...

Er hielt inne. Das waren gar keine Krieger, die ihn dort erwarteten!

Wie einen Fisch ausweiden

Promachos zog den Dolch, den sie unter dem steinernen Sims verborgen hatte, zwischen den Kissen hervor. »Wer hat dich geschickt?«

»Glaubst du wirklich, das würde ich dir einfach so verraten?« Elodia ging auf ihn zu.

Sie lächelte. »Vielleicht wollte ich ihn ja fortwerfen?«

Der Priesterfürst lachte. »Natürlich! Und vielleicht geht morgen früh der Mond statt der Sonne auf. Und was diejenigen angeht, die dich geschickt haben, du wirst mir ihre Namen nennen. Ich glaube nicht nur, dass es so kommen wird. Ich weiß es. Hast du je einer Folter beigewohnt, Danae? Sie zerstören alles an dir, was schön ist. Innerlich wie äußerlich. Viele beginnen schon zu reden, wenn man ihnen ein dünnes Messer unter die Fingernägel treibt. Anderen muss man mit einer Zange ein paar Fingerglieder oder Zehen abtrennen. Bei Frauen reicht oft schon die Drohung, dass sie von einigen der Kerkerwächter vergewaltigt werden. Aber wie ich dich einschätze, wird man sich wohl eher deinen Fingern und Zehen widmen müssen, oder vielleicht deine Nase abschneiden. Oder eines deiner Ohren.«

Sie stand jetzt dicht vor dem Bett. Elodia wusste, dass er mit Waffen umzugehen verstand. Sie würde ihm das Messer nicht einfach entwinden können. Er war stärker als sie. Und ganz gleich, was sie tat, es musste ihn überraschen. Er durfte nicht dazu kommen, zu schreien. Es war aussichtslos. All die Mühen waren vergebens gewesen!

»Hast du noch irgendwelche ergreifenden letzten Worte zu sagen, bevor ich dich ins Reich der Schreie schicke?«

»Stimmt es wirklich, dass ich keine gute Liebhaberin war?«

Er lachte auf. »Das ist es, was dich bewegt?«

»Würde es helfen, wenn ich um Gnade bitte? Wohl kaum. Du magst mich für eine Meuchlerin und Hure halten, aber ganz gleich, was du von mir denkst, ich habe meinen Stolz. Ich hatte in den letzten Monden immer das Gefühl, dass ich eine gute Hure für dich war und deine Lust nicht gespielt war.« Sie ließ sich neben ihm auf dem Bett nieder und legte eine Hand auf seinen Schenkel.

»Versuchst du etwa, mich zu verführen?« Er berührte mit der Dolchspitze ihre Wange, dicht unter dem Auge. Der kalte Stahl glitt hinab zu ihren Lippen, dann auf ihre Kehle.

»Ich gebe zu, dass eine gewisse Spannung darin lag, mit einer Frau ins Bett zu steigen, von der ich wusste, dass sie mich ermorden wollte. Das gab der Sache einen besonderen Reiz.« Er tippte mit der Dolchspitze auf eine Brustwarze. »Aber kein Reiz ist unendlich. Unsere Wege trennen sich nun.« Er hob den Dolch an.

Elodia warf sich in die Waffe. Der Dolch bohrte sich über der Brust in die Schulter. So war die Waffe gebunden, und sie konnte sicher sein, dass Promachos ihr nicht die Kehle aufschlitzte. Im selben Augenblick versetzte sie ihm mit dem Ellenbogen einen heftigen Schlag gegen den Knorpel in seiner Kehle.