Adrien nahm gerne an. Er hatte keine Ahnung, wie man eine Rüstung anlegte. Er wusste nicht einmal, wie er in den Brustpanzer hineinsollte. Jules hingegen schien mit den Rüstungen vertraut zu sein. Er klappte die Schulterstücke zurück. Darunter befanden sich Schnallen.
Mit Hilfe des Priesters streifte der Junge zuerst das Lederhemd über. Es war wie erwartet viel zu weit. Auch die Ärmel waren zu lang.
Nie zuvor hatte Adrien solches Leder berührt. Es war wunderbar weich, aber merkwürdig dick. Das Hemd schien aus zwei Schichten zu bestehen, zwischen denen irgendetwas Bewegliches, Gallertartiges eingenäht war.
»Zum Kampf taugt diese Rüstung wohl eher nicht«, sagte Adrien halb zu sich selbst.
»Warum?«
Das war wohl wieder einer der Anflüge von Jules’ Humor. »Wie sollte dieses Hemd wohl einen Schwerthieb aufhalten, so weich wie es ist?«
»Du fühlst dich unsicher?« Der Priester brummte etwas Unverständliches. »Dreh dich mal ein wenig und heb den Arm hoch. Ich glaube, da muss ich noch etwas verschnüren.«
Kaum hatte er Jules den Rücken zugewandt, traf ihn ein heftiger Schlag unter die Achsel. Die Wucht des Treffers ließ ihn zurücktaumeln.
»Bist du wahnsinnig?« Er wich hinter den Stuhl des Eberritters zurück.
Jules hielt einen der Fackelstöcke in der Hand. »Ich wollte dir nur deine Angst nehmen«, erklärte er mit zuvorkommendstem Lächeln. »Eigentlich hätte dir der Hieb ein bis zwei Rippen brechen müssen, wenn du nur ein Lederhemd angehabt hättest.
Streich einmal über das Hemd, dort, wo ich dich getroffen habe.«
Einen Augenblick war Adrien noch wütend. Dann konnte er sich der Wahrheit der Worte nicht länger widersetzen. Er tastete über das Hemd. Es war unter der Achsel, dort wo er den Hieb abbekommen hatte, hart wie Stein geworden. Doch während er noch darüberstrich, veränderte es sich bereits wieder und wurde geschmeidig. »Was ist das?«
»Ich würde sagen, im Gegensatz zu dem, was die übrigen Ritter der Menschheit tragen, eine überaus bequeme Rüstung. Aber werde nicht leichtfertig. Dieser Zauber, der die Rüstung dort hart werden lässt, wo sie getroffen wird, birgt eine Gefahr.
Erhältst du viele Treffer gleichzeitig, wird deine Beweglichkeit stark beeinträchtigt.
Dann bist du in Bedrängnis. Und begehe nicht den Fehler, dich für unverwundbar zu halten. Du bist nur einfach besser geschützt als andere Krieger. Aber ein Treffer bei einer Naht oder aber durch die Augenöffnungen des Maskenhelms ist gefährlich.«
Das Leder unter seiner Achsel war jetzt wieder ganz geschmeidig. »Man kann es nicht durchschneiden?«, fragte Adrien skeptisch.
»Nicht mit den Schwertern, denen du unter Menschen begegnest. Aber sehr wohl mit diesen hier.« Er deutete auf die Waffen auf dem runden Tisch. »Sei also auf der Hut. Wenn du dein Schwert verlierst, dann wird es dein größter Feind werden. Am besten, du vergisst die Eigenschaften der Rüstung wieder. Und sollte es zu einem Kampf kommen, dann tust du das, was ich dich gelehrt habe. Du wehrst dich einfach so gut, dass du erst gar nicht getroffen wirst.« »Und Elfenschwerter...«
»Ach, Junge. Hab doch ein wenig Vertrauen. Diese Rüstungen wurden für Könige geschaffen, die Krieg gegen die Elfen führten. Natürlich schützt die Rüstung dich vor Elfenwaffen. Aber deine Aussichten, jemals einem Elfen oder auch nur einem Albenkind zu begegnen, sind gelinde gesagt gering.«
Adrien versuchte einen der zu langen Ärmel hochzukrempeln, doch sofort wurde das Leder wieder ganz hart. Was habe ich Tjured nur getan?, dachte er bei sich. Da finde ich die kostbarsten Rüstungen und werde sie nicht tragen können.
Er ließ sich einkleiden. Die Stiefel waren etliche Zoll zu groß. Die Schäfte reichten ihm bis über die Knie. Er würde wie eine Ente herumwatscheln, wenn er mit diesem Schuhwerk laufen wollte.
»Fehlt nur noch der Helm«, sagte Jules.
»Lassen wir es doch. Das führt doch zu nichts.«
»Jetzt habe ich dich so weit eingekleidet, jetzt will ich auch alles sehen. Du kannst sie ja wieder ablegen, wenn du dich unwohl fühlst.«
Unwohl fühlte er sich jetzt schon, aber das mochte er Jules nicht sagen. Er hatte keine Lust, sich einen Vortrag über Mut anzuhören.
Das versilberte Gesicht des Helms ließ sich zur Seite klappen. Es zeigte das Antlitz eines schönen, bartlosen Jünglings. Behutsam setzte Jules ihm den Maskenhelm auf. Er war erstaunlich leicht, aber als der Priester ihn zuklappte und das Scharnier am Hals verschloss, überkam Adrien jähe Panik. Er fühlte sich eingesperrt. Hätte der Helm genau gepasst, wäre es wohl nicht so schlimm gewesen. Aber so lag die Maske eben nicht auf seinem Gesicht auf. Die Nasenlöcher schwebten vor ihm im Dunkel. Ebenso die Augenöffnungen. Er hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen.
Mit beiden Händen packte er den Helm. Aber mit den viel zu weiten Handschuhen vermochte er den Verschluss am Hals nicht zu öffnen.
»Hol mich hier heraus«, röchelte er.
Ein Knirschen lief durch das Metall.
»Verdammt, verhalte dich etwas würdevoller«, fluchte Jules. »Du trägst die Rüstung eines Königs! Du musst nun auch wie ein König sein. Bleib ruhig!«
Das Leder schien lebendig geworden zu sein. Deutlich konnte Adrien fühlen, wie es sich auf seiner Haut bewegte. Und dann, als der Helm enger wurde und ihm die Nase eindrückte, erinnerte er sich wieder daran, was der Priester gesagt hatte. In einer Geschichte heißt es sogar, die Rüstungen würden einen Unwürdigen einfach zerquetschen.
Auf der Flucht
Elodia erwachte von einem dumpfen, pochenden Schmerz in ihrer Schulter. Sie war nackt und über und über mit geronnenem Blut bedeckt. Erschrocken sah sie zum Fenster. Der Himmel war von lichtem Blau. Wie lange war sie ohnmächtig gewesen?
Nur ein paar Augenblicke? Eine halbe Stunde? Promachos musste zum Opferritual, das am Nachmittag bei der Götzenstatue des Baibar abgehalten werden sollte. Wie viel Zeit blieb ihr noch?
Sie versuchte sich aufzurichten. Ihr langes Haar klebte im getrockneten Blut auf dem Boden. Als sie sich aufrichtete, wurde ihr wieder schwarz vor Augen.
Taumelnd schaffte sie es zum Wasserbecken. Sie musste sich waschen. Wenigstens ihre Hände und ihr Gesicht. So konnte sie nicht fliehen.
»Jean«, flüsterte sie, als sie auf das Blut im Wasser blickte. Sie dachte fest an sein Gesicht. Sie musste es schaffen, hier herauszukommen! Nur dann würde Jean in Frieden leben. Sie durfte nicht gefasst werden. Sie war sich sicher, dass Promachos nicht gelogen hatte, was die Künste der Folterknechte anging.
Wieder blickte sie hinaus zum Himmel. Wie viel Zeit blieb ihr noch?
Sie ging zum Bett. Wieder drohte die Ohnmacht sie zu übermannen. Sie musste sich auf das blutige Laken setzen, um nicht zu stürzen. Reiß dich zusammen!, dachte sie wütend. Du kannst es schaffen.
Sie schnitt Streifen aus dem Laken, dort wo es noch blütenweiß war. Dann legte sie die Tücher über den blutigen Seidenwulst, der wie eine exotische Blüte aus ihrer Schulter wucherte. Als sie den Arm hob, um den Verband darunter durchzuziehen, stöhnte sie auf. Wenn sie noch einmal ohnmächtig wurde, dann wäre das ihr Tod. Bald würden sich die Wachen draußen fragen, warum Promachos noch nicht auf dem Weg zum Opferritual war. Sie würden nach ihm rufen, und wenn er nicht antwortete, dann würden sie irgendwann hereinkommen. Die Wachen würden einen Weg finden, sie aus ihrer Ohnmacht zu reißen.
Sie sollte so etwas nicht denken! Denk allein an Jean! Ob er schon zum ersten Mal ein Mädchen geküsst hatte? Sie nahm einen Zipfel des Stoffstreifens zwischen die Zähne und zog den Verband straff. Wieder drohte der Schmerz sie zu überwältigen.
In aller Eile wählte sie ein Kleid aus. Eines, das geknöpft wurde und das sie nicht über den Kopf ziehen musste. Dann warf sie sich einen dünnen, dunklen Kapuzenumhang über. Sie nahm ein wenig Schmuck aus dem Kästchen auf ihrem Schminktisch und den dicken Knotenstock aus goldenem Olivenholz, mit dem Promachos ungeschickte Diener verprügelt hatte. Ohne den Stock würde sie nicht weit kommen.