Sie trat an den großen Wandteppich. Der Priesterfürst hatte gelogen, als er behauptet hatte, sie nie geliebt zu haben. Er hatte ihr die geheimen Gänge im Tempelpalast gezeigt. Auf diesen Wegen war er während der ersten Wochen zu ihr gekommen, die sie im Tempel verbracht hatte. So hatte er sie an Wachen und den allzu neugierigen Augen anderer hoher Würdenträger vorbei in seine Gemächer geholt. Bis zu jenem Tag, an dem er sich ganz offen zu ihr bekannt und alle Heimlichkeit ein Ende gehabt hatte.
Sie hob den schweren Teppich und drückte mit dem Fuß gegen die mit Lilienreliefs verzierte Bodenleiste. Man musste die richtige Blüte treffen. Beim dritten Versuch fand sie sie. Lautlos glitt die Geheimtür auf. Elodia trat in den engen Gang. Sorgsam schloss sie die Türe wieder. Die einfachen Wachen kannten den Geheimgang nicht. So gewann sie Zeit für ihre Flucht.
Schwer auf den Olivenstock gestützt, schleppte sie sich voran. Sie zählte ihre Schritte, um in dem Labyrinth sich kreuzender Gänge nicht die Orientierung zu verlieren.
Selbst durch die dicken Mauern hörte sie den hellen Klang der Zimbeln. Jetzt wurde die Königin dieses Tages zur großen Sänfte geführt. Das war der zynische Name, den sie den Mädchen gaben, die Baibar geopfert wurden. Für einen Tag waren sie Königinnen von Iskendria. Sicher klopften die Wachen jetzt an Promachos’ Tür.
Die stickige Hitze im Labyrinth setzte ihr zu. Immer wieder musste sie kurz innehalten, um neue Kräfte zu schöpfen. Endlich drückte sie sich durch die geheime Tür in der Sänftenkammer. Wie sie erwartet hatte, war hier niemand mehr. Die Sänften waren längst in den Innen hof des Palastes gebracht worden. Sie verließ die Kammer durch eine Seitentür und mischte sich unter die Schaulustigen, die auf die Königin dieses Tages warteten.
Auf den Treppen zum Palast standen die Tempelwachen. Prächtige Krieger mit bronzenen Brustpanzern und Helmen, von denen schwarze Federbüsche wippten. Sie hielten ihre Speere gen Boden gerichtet, ein heuchlerisches Zeichen der Trauer über das Schicksal, das die Königin dieses Tages erwartete. Die großen Rundschilde, auf die sie die bärtige Fratze des Stadtgottes Baibar gemalt hatten, hatten sie auf den Boden gestützt und hielten sie mit der Linken. Breitbeinig standen sie auf der Treppe. Jeder einzelne ein prächtig anzuschauendes Mahnmal für ihren baldigen Tod, wenn sie noch länger verweilte.
Sie zog die Kapuze tiefer ins Gesicht. Sich durch die Reihen der Schaulustigen zu drängen, war eine einzige Folter. So gebeugt, wie sie ging, hielt man sie wahrscheinlich für eine alte Frau. Die meisten behandelten sie rücksichtsvoll, aber es war einfach unmöglich, durch die Heerscharen der Gaffer zu kommen, ohne angerempelt zu werden. Jeder Stoß ließ sie aufstöhnen. Sie hatte Angst, dass die Wunde wieder zu bluten anfangen würde.
Endlich erreichte sie eine der Straßen zum Hafen. Als sie den Kai mit den Handelsschiffen von den Aegilischen Inseln sehen konnte, wurde ihr schwarz vor Augen. Die Beine knickten einfach unter ihr weg. Sie hatte keine Kraft mehr. Sie schaffte es zwar, gegen die Ohnmacht anzukämpfen, aber sie kam nicht mehr hoch.
Besorgt blickte sie die Straße hinauf. Wann würde der Mob beginnen, die Straßen nach der Mörderin des Priesterfürsten Promachos abzusuchen?
Ein junger Mann blieb vor ihr stehen. Er musterte sie. Unwillkürlich drückte sie die Linke, in der sie den gestohlenen Schmuck hielt, fester gegen die Brust.
»Geht es dir nicht gut?«
»Die Hitze«, murmelte sie. »Mir ist ein wenig übel.« Der Kerl hatte ein breites Kreuz. Vielleicht war er einer der Schauerleute, die halfen, die Schiffe zu entladen. »Wenn du mich zum Kai dort vorne trägst, dann soll es dein Schaden nicht sein.«
Er sah sie an wie ein Weib, das auf dem Fischmarkt die frischen Heringe von denen des Vortags zu unterscheiden suchte. Ihre Kleider waren schlicht, doch aus teurem Stoff.
Endlich nickte er. »Wohin soll es denn gehen?«
»Zu den aegilischen Galeeren. Trag mich an ihnen vorbei. Ich werde dir zeigen, auf welches Schiff ich gehöre.«
Er beugte sich vor, um sie aufzuheben. Dabei sah er ihr Gesicht. Leise pfiff er zwischen den Zähnen. »Das ist das erste Mal, dass mir ein hübsches Mädchen Lohn dafür ver-spricht, dass ich es in den Armen halte.«
»Hoffe nicht auf einen Kuss«, zischte sie und zog die Kapuze noch weiter hinab.
Als er sie auf die Arme nahm, entfuhr ihr ein Schmerzenslaut.
»Soll ich dich nicht lieber zu einem Heiler bringen?« Seine Stimme klang aufrichtig besorgt.
»Man erwartet mich bei den Schiffen. Dort werde ich versorgt werden«, antwortete sie auf Valethisch mit unverkennbar aegilischem Akzent. Sie war sich sicher, dass man ihren Helfer über die Frau befragen würde, die er getragen hatte. Je mehr Spuren zu den Pirateninseln wiesen, desto besser.
Der Schauermann stellte keine weiteren Fragen mehr. Er trug sie an den vertäuten Galeeren vorbei. Elodia hielt Ausschau nach einem der schlanken, schnellen Schiffe, die sich auf den Handel mit Luxusgütern spezialisiert hatten. Pelze und Bernstein aus dem fernen Drusna, feines Fargoner Leinen, Weihrauch, teure Weine und andere, exotische Waren, die an die Tempel und reichsten Kaufherren geliefert wurden.
Endlich, fast am Ende des langen Kais, sah sie ein Schiff, das sich offensichtlich zum Auslaufen bereitmachte.
»Dorthin«, stieß sie hervor. »Setz mich vor der Laufplanke ab. Den Weg hinauf schaffe ich allein.«
»Das glaube ich nicht, Herrin«, entgegnete er entschieden, und noch bevor sie etwas einwenden konnte, brachte er sie an Bord.
Sofort umringten sie einige der Ruderer. Es bedurfte keiner Worte; ihr Träger begriff auch so, dass man sie auf diesem Schiff noch nie gesehen hatte. Er setzte sie auf einer Kiste ab und baute sich schützend vor ihr auf.
»Ich brauche eine Überfahrt nach Zeola«, sagte sie leise und legte einen Smaragdohrring neben sich auf die Kiste.
»Wer bist du?«
»Eine Frau mit Geld und einflussreichen Freunden.« Sie zog ihre Kapuze ein wenig zurück, achtete aber darauf, dass man ihr blutverklebtes Haar nicht sehen konnte. Ihr Anblick verfehlte seine Wirkung nicht. Der Widerstand der Ruderer schmolz dahin, bis ein hochgewachsener Mann mit grauem Lockenhaar zwischen ihnen auftauchte.
»Edelfrauen gehören nicht zu unserer Fracht, edle Dame. Wir können dir keine Unterkunft bieten, die deinem Stand angemessen wäre.«
Sie strich über die Kiste, deren Siegel sie erkannt hatte. Ihre Hand zitterte vor Schwäche. »Ich bin mit Sicherheit weniger zerbrechlich als die feinen Flakons aus blauem Bergkristall, die du übers Meer bringen sollst. Ich kann hier an Deck schlafen.«
Der Grauhaarige nahm den Smaragdohrring und hielt ihn prüfend gegen das helle Sonnenlicht.
»Makellose Steine. Wenn wir in weniger als einer halben Stunde auslaufen, bekommst du den Zwilling zu diesem Ohrring. Und nun sag mir deinen Namen!«
Der Grauhaarige sah sie misstrauisch an.
»Das ist Kapitän Eurestes«, sagte einer der Ruderer voreilig.
Elodia schenkte ihm ein Lächeln. Dann wandte sie sich an den Schauermann, der sie hergebracht hatte. »Wenn in einem Mond ein Schiff mit purpurnen Segeln in den Hafen einläuft, dann sucht mein Geliebter nach mir. Eile zu ihm, sobald es anlegt. Und sag ihm, ich sei mit Eurestes gesegelt.« Mit diesen Worten reichte sie ihm einen kleinen Goldring.
»Du solltest nicht dieses Schiff nehmen«, flüsterte ihr Helfer besorgt.
Elodia konnte im Gesicht des Kapitäns lesen, dass er genau wusste, wem die Schiffe mit den Purpursegeln gehörten. »Mach dir keine Sorgen um mich. Eurestes weiß, wohin ich gehöre. Ich bin auf seiner Galeere so sicher wie die Kristallflakons in dieser Kiste.« Sie bedachte den Kapitän mit einem Lächeln. Eurestes musste befürchten, dass sie die Geliebte eines Piratenfürsten war, und auch wenn er sie ansah, als hätte sie die Pest an Bord gebracht, würde er sich ein Bein ausreißen, um auf der Überfahrt jeden ihrer Wünsche zu erfüllen.
»Ich brauche jetzt den stärksten Branntwein, den du an Bord hast. Dazu Nadel und Faden. Und bitte nicht das Zeug, mit dem ihr die Segel flickt. Außerdem wäre es schön, wenn du mich an einen Platz bringen könntest, an dem mich nicht deine ganze Mannschaft angafft.«