Die zweite Haut
Der Helm drückte Adrien immer schmerzhafter auf die Nase. Bald würde sie brechen!
Er tastete nach dem Verschluss am Hals. Die Handschuhe lagen jetzt straff wie eine zweite Haut über seinen Fingern. Endlich konnte er den Verschlusshaken ertasten.
»Warte noch etwas«, sagte Jules mit ruhiger Stimme und griff nach Adriens Hand.
»Warte.«
Der Helm verrutschte. Der Druck ließ nach. Kalt lag das uralte Metall auf seinem Gesicht auf. Es hatte aufgehört! Die Rüstung, deren Leder eben noch wie etwas Lebendiges über seine Haut gestrichen war, lag still.
»Ich glaube, du bist erwählt«, sagte Jules, und Stolz lag in seiner Stimme. »Viertausend Jahre hat die Rüstung darauf gewartet, dass ein Mensch sie anlegt. Du weißt, sie wurde für einen König erschaffen. Und nun bist du ihr Auserwählter geworden, junger Michel.«
Zögerlich streckte Adrien die Arme aus. Das Leder beengte ihn nicht. Im Gegenteil, es schien sich bei manchen Bewegungen zu weiten. Sie war völlig anders als jede Rüstung, von der er je gehört hatte. Als habe ihn etwas Lebendiges in sich eingeschlossen.
»Darf ich den Helm jetzt abnehmen?« Seine Stimme dröhnte im Helm, obwohl die metallenen Lippen auf seinen eigenen auflagen und er durch einen schmalen Schlitz sprach.
»Natürlich, Junge.« Jules half ihm. Der Priester öffnete den Verschluss und klappte das silberne Gesicht zur Seite.
Adrien atmete tief ein. Er würde einige Zeit brauchen, um sich an die Rüstung zu gewöhnen. Skeptisch blickte er an sich herab. Der lederne Brustpanzer überzeichnete die Muskeln, die er tatsächlich hatte. Trotz der Rüstung hatte er eine schmale Taille.
Der Umhang gefiel ihm ... Er wünschte sich, er würde an einem stillen See stehen, um sein Spiegelbild zu betrachten.
»Sehe ich gut aus?«
»Nein«, sagte Jules schroff.
Adrien sah überrascht auf. »Aber ...«
»Du siehst nicht gut aus, du siehst sehr gut aus, Dummkopf! Was denkst du denn?
Diese Rüstung wurde von Göttern für einen König erschaffen. Natürlich siehst du gut aus!«
Plötzlich kam Adrien ein neuer, beunruhigender Gedanke. »Und Tjured? Ich soll sein erster Ritter sein. Was wird er denken, wenn ich eine Rüstung trage, die von heidnischen Göttern geschaffen wurde?«
Der Priester griff sich mit der Hand an die Stirn. »Du hast Sorgen! Glaubst du, Gott hätte zugelassen, dass du diese Rüstung findest, wenn er es nicht gewollt hätte? Gut, als du sie angelegt hast, da war ein gefährlicher Augenblick ... Es hätte ja eine Prüfung sein können, ob du der Versuchung widerstehst. Dann hätte er wohl dafür gesorgt, dass dich die Rüstung tötet. Aber es ist ja alles gutgegangen. Also muss es Tjureds Wille sein, dass du ihm in dieser Rüstung als sein Ritter dienst.«
»Du hattest solche Gedanken und hast einfach zugesehen, wie ich die Rüstung anlege?«
Der Priester hielt seinem Blick stand. »Ich konnte mir nicht leisten, dass du Angst vor der Rüstung bekommst«, sagte er sehr ruhig. »Ich musste die Gefahr eingehen.«
Adrien ballte die Hände zu Fäusten. Was hieß hier Gefahr eingehen! Er war die Gefahr eingegangen, von der Rüstung getötet zu werden! Jules hatte einfach nur zugesehen.
Der Junge musste an die Gräber denken, die er all die Jahre gepflegt hatte. Die beiden Schüler, die vor ihm gekommen waren und nicht überlebt hatten. Das war Jules’
dunkle Seite. Mit allem, was er tat, verfolgte er ein geheimes Ziel, das Adrien auch nach sieben Jahren als sein Schüler rätselhaft geblieben war.
»Ich glaube, deine Lehrjahre bei mir enden heute«, sagte Jules.
Diese Ankündigung traf Adrien völlig überraschend. Es war ein Gefühl, als werde ihm der Boden unter den Füßen weggezogen. Sieben Jahre lang hatte sein Leben aus Laufen, Graben, Kämpfen und Unterricht in Lesen und Schreiben sowie Rhetorik und Kirchengeschichte bestanden. Sein Leben war völlig geordnet. Und jetzt wurde ihm all das mit einem einzigen Satz abgenommen. »Ich ... Ich weiß nicht...«, stammelte er fassungslos.
»Keine Sorge, ich zürne dir nicht. Es ist ganz offensichtlich Tjureds Wille, dass du in die Welt hinausziehst. Er hat dich hierhergeführt und damit entschieden, dass du so weit bist. Ich hätte dich noch nicht gehen lassen. Aber wer bin ich, mich gegen den Schiedsspruch Gottes aufzulehnen. Ich habe noch ein Geschenk für dich. Oben in unserer Hütte ... Du solltest am besten heute noch gehen. Es hinauszuzögern, macht es nicht besser.«
»Aber ich bin noch nicht bereit!«, begehrte Adrien auf. »Es gibt so vieles, was ich noch nicht weiß!«
Jules lächelte. »Das wird immer so sein. Auch wenn du hundert Jahre alt wirst. Von nun an wird das Leben dein Lehrmeister sein. Meine Zeit mit dir ist um.« Er streckte ihm die Hand hin. »Komm mit mir, Priesterritter. Von nun an gibt es keinen Lehrer und keinen Schüler mehr. Geh hinaus in die Welt und mache Tjured Ehre. Du hast das Zeug dazu.«
Adrien ergriff die Hand. Er war stolz. Aber immer noch zutiefst verunsichert. Ein Teil von ihm wünschte sich, er hätte dieses Schatzgewölbe mit den Rüstungen niemals gefunden.
Jules ging zum Tunnel zurück. »Was willst du tun, nun, da dir die ganze Welt offensteht? Mit welcher Heldentat wirst du dein Wirken als Ritter Gottes beginnen?
Mit dieser Rüstung und dem Schwert kannst du fast alles erreichen, wenn du dich klug anstel st. Hast du das Schwert?«
Die Waffe lag noch auf dem Tisch. Es war so viel geschehen, dass er gar nicht daran gedacht hatte, das Schwert mit dem Eberknauf zu nehmen, obwohl er sich die Schwertscheide umgegürtet hatte, als er die Rüstung angelegt hatte. Entschlossen nahm er das Schwert an sich. Es war erstaunlich leicht. Eine doppelte Blutrinne nahm der Waffe einiges an Gewicht. Bei dem Schwert schien es, als sei es von Anfang an für ihn geschmiedet gewesen. Die Größe veränderte sich nicht, und doch lag die Waffe perfekt in seiner Hand und war wunderbar ausgewogen. Er machte ein paar schnelle Schläge. Zischend zerschnitt die Klinge die Luft. In kunstvollen Figuren ließ er das Schwert wirbeln. Es war eine Freude, diese Waffe zu führen! Mit einer letzten eleganten Bewegung schob er es in die Scheide. Kaum war die Klinge im weißen Leder verschwunden, ertönte tief im Tunnel ein Geräusch, als bewegten sich uralte, verrostete Türangeln.
Jules war sichtlich unruhig. »Komm!«, rief er ihm zu und winkte hastig, um seinen Worten noch mehr Nachdruck zu verleihen.
»Was war das?«
»Keine Ahnung. Und ich möchte es auch gar nicht herausfinden!«
Der Priester begann zu laufen. Seine Fackel war fast heruntergebrannt. Adrien hatte seine auf dem Boden neben dem Rüstungsständer liegen lassen. Im zitternden Licht der kleiner werdenden Flamme sahen die Figuren auf den Wänden viel lebendiger aus als auf dem Hinweg.
Vor ihnen im Tunnel ertönten noch immer Geräusche. Sie klangen jetzt anders. Wie Schläge eines großen Hammers mit Eisenkopf, die auf Fels treffen. Sie erklangen ganz regelmäßig. Und sie kamen näher!
Endlich erreichten sie die Stelle, an der das Seil hinabhing. Klares Mittagslicht stach hier in den Tunnel hinab. Die Bilder an den Wänden waren verblasst, als habe das Sonnenlicht ihre Farbe getrunken.
Erleichtert streckte Adrien die Hand nach dem Seil. Da ertönte ein letztes Stampfen.
Eine gewaltige Gestalt aus Gold und Silber trat aus dem Zwielicht des Tunnels. Ein silberner Löwe mit einer Mähne aus Gold, dem weite, goldene Schwingen aus dem Rücken wuchsen. Der Löwe war mehr als drei Schritt hoch.
Seine Augen funkelten in strahlendem Blau. Er sah auf sie herab. Sein metallenes Gesicht wirkte edel. Es war nicht die Fratze eines angriffslustigen Raubtiers. Dennoch legte Adrien die Hand auf den Eberknauf seines Schwertes.
»Wenn du gegen ihn eine Waffe ziehst, bist du binnen eines Herzschlags tot«, sagte Jules leise. Dann trat der Priester unmittelbar vor den Löwen. Er sprach ihn in einer Sprache an, wie Adrien sie noch nie gehört hatte. Jules aber ging sie so glatt von der Zunge, als sei es seine Muttersprache. Seine Worte waren beherzt und selbstbewusst.