»Wir hatten Glück mit dem Feuer. Es war vor meiner Zeit. Aber wie ich gehört habe, war es eine windstille, schwüle Nacht, in der das Feuer ausbrach. Es hat nicht auf die anderen Häuser übergegriffen. Durch den großen Brunnen auf dem Markt war genügend Wasser da, um die Flammen sofort zu bekämpfen. Dennoch war der Schaden so groß, dass eine neue Stadthalle gebaut werden musste.«
»Wie ist es zu dem Feuer gekommen?«
»Das konnte nie geklärt werden. Es ist unter dem Dach im Archiv ausgebrochen.
Wahrscheinlich hat es eine Weile unbemerkt geschwelt. Plötzlich stand dann der ganze Dachstuhl in Flammen.«
»Und der alte Stadtkommandant?«
»Du stellst seltsame Fragen, junger Ritter. Aber die Verkettung deiner Fragen hat etwas Beunruhigendes. Worauf willst du hinaus?«
Adrien entschied, ihm diese Antwort schuldig zu bleiben. »Was ist beunruhigend?«
»Das wirst du sehen, wenn wir beim alten Stadtkommandanten sind.«
Für eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her. Raoul brachte ihn durch das Gedränge der Schiffergasse zum Hafentor. Adrien empfand die Enge der Stadt als unangenehm. Überall waren Leute, die ihn, den weißen Ritter, angafften. Fuhrwerke stauten sich vor dem engen Tor. Ein Rattenfänger, der ganze Trauben von Ratten von einem langen Spieß hängend über seinem Rücken trug, pries lauthals seine Dienste an.
Marktweiber mit schweren Körben verließen die Stadt. In der Gosse am Wegesrand tummelten sich einige hagere Welpen mit ängstlichen schwarzen Augen. Ihr kurzes Fell starrte vor Dreck.
Adrien kam es so vor, als blickten sie sehnsüchtig den toten Ratten am Spieß hinterher.
Gleich beim Tor stand ein junges Mädchen in einem braunen Kleid, die nicht mehr ganz frische Blumen feilbot. Sie war so dünn, dass Adrien ihr ein Stück Gold zuwarf.
Raoul sah ihn verständnislos an, sagte aber nichts.
Mach nur so weiter, Ritter vom weichen Herzen! Warum gibst du dem Einbeinigen da vorne nichts? Oder dem Kerl da drüben, dem sein Hautausschlag die halbe Nase weggefressen hat.
Bist du nur zu Blumenmädchen mildtätig? Du bist scheinheilig! Der Bettler da hinten ist viel dürrer als sie. Freilich kann der sich nicht einem Fleischhauer zum Liebesspiel verkaufen. Da muss man dann mit seinem Gold geizen.
Adrien zog ruckartig am Zügel, und die Stimme in seinem Kopf verstummte. Ja, er suchte sich aus, zu wem er mildtätig war! Die Welt war zu groß, um allen Gerechtigkeit widerfahren lassen zu können. Obwohl er erst vor zehn Tagen die Berge verlassen hatte, hatte er diese Lektion bereits tief verstanden.
Raoul führte ihn über die weite, steinerne Brücke. Unter den Pfeilern lagerten Kähne wie der, mit dem Adrien einst seine Reise in ein neues Leben begonnen hatte.
Am anderen Ufer stand das Gasthaus Die drei Gehenkten. Hier fand Unterkunft, wer zu später Stunde nach Nantour kam und das Flusstor verschlossen vorfand. Nur einen Steinwurf entfernt, auf einem Hügel, der sich über die Flussniederungen erhob, stand weithin sichtbar das Galgengerüst. Ein Rahmen aus schweren Balken, der von vier dicken, steinernen Pfeilern getragen wurde. Heute hing von keinem der eisernen Haken, die ins Holz eingeschlagen waren, ein Seil. Aber Adrien konnte sich an einen Nachmittag in seiner Kindheit erinnern, an dem dort zwölf Männer und Frauen aufgeknüpft worden waren, weil sie sich gegen den König verschworen hatten. Es war ein strahlend klarer Wintertag gewesen. Hunderte hatten sich um den Hügel eingefunden, und es hatte eine ausgelassenere Stimmung als selbst beim großen Flachsmarkt im Frühjahr oder dem Schifferfest im Herbst geherrscht. Es war einer der wenigen Tage gewesen, an denen er sich mit vollem Bauch schlafen gelegt hatte, denn er hatte es geschafft, einem unachtsamen Gaffer eine große Fleisch-pastete zu stehlen.
»Ich wäre dir sehr verbunden, wenn du nicht mehr nach Nantour zurückkehren würdest, junger Ritter. Männer wie du bringen Unruhe und Ärger.«
»Du hast mich also belogen! Du hattest nie vor, mich zum alten Stadtkommandanten zu bringen.« Adrien sagte das ganz ruhig. Er blickte zur Brücke zurück und erwog, sofort wieder umzukehren. Allerdings würde er dann gegen die Wachen am Flusstor kämpfen müssen. Ein Wink von ihrem Kommandanten würde genügen, damit sie den Weg versperrten.
»Ich bin kein Lügner. Ich werde dich zum Stadtkommandanten bringen, wie ich es versprochen habe, doch ich fürchte, er weiß auch keine Antwort auf deine Fragen.
Komm! Wenn wir fertig sind, lade ich dich ins Gasthaus ein. Ich habe nichts gegen dich, Junge. Ich will dich nur nicht in meiner Stadt haben.«
Adrien wusste nicht, wie er mit dem alten Krieger umgehen sollte. Er fühlte sich völlig überrumpelt, und das auf eine Art, dass er Raoul nicht einmal böse war. Viel eicht würde das ja später noch kommen. Er blickte über die Ebene. Da gab es nur Bauernhäuser. »Dort finde ich den ehemaligen Stadtkommandanten?«
»Komm einfach noch ein kleines Stück Weg mit mir. Dann wirst du verstehen.«
Ratlos, was er sonst hätte tun sollen, ging er mit und versuchte die Flüche seines Pferdes zu überhören, das ihn einen Tölpel und Schlimmeres nannte.
Hinter dem Richtplatz gab es ein kleines, von Pappeln umstandenes Feld. Dort wurden die Gehenkten und andere begraben, die keinen Platz auf dem Totenacker Nantours fanden, weil die Umstände ihres Todes sie für immer von allen anderen unterschieden.
Der Friedhof war von einer niedrigen Steinmauer umgeben. Ein schmales schmiedeisernes Tor war der einzige Zugang. Zwei Heiligenbilder wachten am Eingang, Statuen, die Adrien jetzt als ungelenk und fast kindlich in der Ausführung empfand.
Als er auf den Totenacker trat, schlug er verstohlen das Zeichen des schützenden Horns.
Das fehlt noch! Da haben wir einen heimlichen Heiden, der ein Ritter Tjureds sein will.
Diesmal hatte er für den Spott nur ein Lächeln übrig. Jeder vernünftige Mensch wusste, dass man sich vor den Toten auf einem solchen Friedhof nicht genug in Acht nehmen konnte. Die Gräber der Selbstmörder, Gehenkten und Kindsmörderinnen waren verflucht. Ihre Toten waren dazu verdammt, keinen Frieden zu finden. Und wenn man nicht alle Regeln beachtete, mochte es sein, dass sie sich wieder aus ihren Gräbern erhoben.
»Hier liegt er.« Raoul war vor einem großen, grauen Feldstein stehen geblieben. Wie bei allen Gräbern hier draußen gab es keinen Namen. Namen hatten die Macht, Tote länger in der Welt der Leben zu halten.
»Was hat er getan?«
»Drei Tage nachdem ich mit meinen Männern in die Stadt gekommen bin, um ihn abzulösen, hat er sich die Kehle durchgeschnitten. Ich habe an jenem Abend noch mit ihm gegessen. Er wirkte bedrückt. Aus irgendeinem Grund schien er überzeugt gewesen zu sein, dass er sein Kommando in Nantour bis ans Ende seiner Tage behalten würde. Dabei kannte er die Regeln! Er wusste, dass er schon ungewöhnlich lange mit seinen Männern in der Stadt war. Um Bestechlichkeit und andere, schlimmere Übel zu bekämpfen, lässt König Cabezan die Stadtwachen regelmäßig versetzen. Es ist selten, dass ein Kommandant länger als vier oder fünf Jahre in einer Stadt bleibt. Er hatte einen Marschbefehl an die Grenze nach Drusna bekommen. Kein guter Platz, um seinem König zu dienen. Es gibt ständig Überfälle, und es häufen sich Gerüchte, dass ein Krieg bevorsteht. Die Waldgrenze ist kein Ort, an den man gerne geht. Aber ich hatte das Gefühl, dass er sich mit seinem Schicksal arrangiert hatte, als ich nach dem Abendessen ging. Er hatte Pläne gemacht, einen Trupp Lanzenreiter aus Equitanien anzuwerben. Und er wollte sich einen Schuppenpanzer anfertigen lassen, so wie ich ihn trage. Jemand, der sich umbringen will, macht doch nicht solche Pläne! Er hatte mich auch für den nächsten Morgen eingeladen, um mit mir die Würdenträger der Stadt aufzusuchen und mich vorzustellen.« »Wie ist er gestorben?«
»Er hat sich in den Lehnstuhl seines Amtszimmers gesetzt und sich die Kehle durchgeschnitten.« Raoul schüttelte den Kopf. »Ich habe oft gedacht, dass er hier zu Unrecht liegt. Dass er ermordet worden ist. Aber vor seiner Kammer lag die Wachstube. Niemand konnte unbemerkt zu ihm gelangen! Die Priester haben ihm den Kopf ganz abgeschnitten, wie man es bei Selbstmördern macht. Sie haben den Kopf in einen Sack mit Steinen gesteckt und im Fluss versenkt. Der Rest liegt hier begraben. Du siehst, ich habe Wort gehalten, ich habe dich zu dem Mann gebracht, den du gesucht hast.« Er lächelte linkisch. »Jedenfalls zum größeren Teil von ihm.«