Adrien kniete vor dem Stein nieder und legte seine Hand darauf. Hier lag der Mann, der gewusst hatte, wo das Blumenmädchen war. Elodia. War das alles, was er von ihr finden sollte? Nur ihr Name?
»Deine Fragen, Junge, sind auch mir schon durch den Kopf gegangen. Welches Geheimnis hat diese Stadt? Gibt es einen Zusammenhang zwischen einem Archiv, das einfach so in Flammen aufgeht, und einem Hauptmann der Stadtwache, der sich plötzlich das Leben nimmt? Ich habe aufgegeben, nach der Antwort zu suchen. Die Stadtwachen werden auch deshalb ausgetauscht, damit man von vorne beginnen kann. Ich weiß nichts von den alten Verbrechen, und so soll es bleiben. Ich möchte nicht, dass du die Stadt noch einmal betrittst. Dass du aufweckst, was zusammen mit meinem Vorgänger begraben wurde.
Was immer du hier suchst, Ritter, es ist verschwunden.«
Adrien richtete sich wieder auf. Er war ein ganzes Stück größer als der alte Krieger.
»Weißt du, in welche Stadt nach Drusna die Wachen geschickt wurden?«
»Bei Tjured, du wirst doch nicht etwa versuchen, sie zu finden, Junge! Niemand geht freiwillig dorthin. Ohne einen Hauptmann wird man sie verteilt haben. Gott allein weiß, wo sie überall stecken. Warum suchst du sie überhaupt?«
»Ich will ein Mädchen wiederfinden, das vor sieben Jahren Blumen auf dem Heumarkt verkauft hat. Und einige der Stadtgardisten müssen wissen, was aus ihr geworden ist.«
»Ein Blumenmädchen! Schlag dir das aus dem Kopf! Das ist eine Aufgabe, wie Märchenritter sie sich stellen. Du müsstest ein Narr sein, wenn du freiwillig nach Norden reitest. Ein Krieg zieht dort herauf. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede! Ich komme von dort, und ich bin froh, nun in einer Stadt wie Nantour Dienst zu tun. Alles, was ein junger, romantischer Held wie du an der Grenze nach Drusna finden wird, ist der Tod.«
»Sehe ich aus wie einer der Ritter, die dir zuvor in deinem Leben begegnet sind?«
»Nein, natürlich nicht, das weißt du!«
Adrien lächelte. »Dann muss ich wohl ein Märchenritter sein.«
»Was über Kindheit und Jugend des Heiligen Michel Sarti berichtet wird, sind Volkslegenden!
Seit über hundert Jahren lebt niemand mehr, der den Heiligen kannte. Michel selbst hat über seine Jugend geschwiegen. Und ich wil es ihm gleichtun! Anders als die Schwätzer, die erzählen, der heilige Jules sei sein Vater gewesen und habe ihn in einem verwunschenen Tal großgezogen, oder die sich nicht schämen zu behaupten, der Heilige habe mit seinem Pferd gesprochen, mit dem er durch den Himmel zu reiten vermochte! Einige Ketzer behaupten sogar, der Heilige sei in seiner Jugend ein berüchtigter Söldnerführer gewesen.
Ich bin der Wahrheit verpflichtet. Nichts anderes sol hier stehen! Der erste verbürgte Bericht über Michel Sarti ist ein Brief, der vom Hauptmann Malmon, dem Stadtkommandanten von Ulmenburg, überliefert wurde. Er schreibt an Balduin, den Hofmeister des Königs Cabezan, vom Hungerwinter und vom weißen Ritter, der seinen Männern Halt und Hof nung gab, als die Stadt vom drusnischen Fürsten Arsi belagert wurde. Zugleich beklagt er, dass sieben der tapfersten seiner Männer sich der Kirche unterstellt hätten und ein Ordenshaus gründeten.
Fortan führten sie den Aschenbaum im Schilde und dienten keinem anderen Herrn als Tjured mehr. Diese sieben und der geheimnisvolle weiße Ritter waren es, die während eines Schneesturms ganz al ein gegen das Heerlager der Drusnier ritten. Und Tjured war an ihrer Seite, denn sie verbreiteten solchen Schrecken unter den Feinden, dass diese flohen und viele von ihnen in den eisigen Fluten des Alda ertranken. Die Vorräte des drusnischen Heerlagers aber brachten die Sieben nach Ulmenburg und sie teilten sie gerecht unter den Einwohnern auf, und so ward die Stadt gerettet, als ihr Untergang schon besiegelt schien.
Wie in vielen alten Urkunden zu lesen ist, ist Ulmenburg der Ort, an dem das erste Ordenshaus des Ritterordens vom Aschenbaum gegründet wurde. Und auch wenn Hauptmann Malmon den Namen des weißen Ritters nicht nennt, so kann es keinen Zweifel geben, dass der Unbekannte niemand Geringerer als Michel Sarti war.
Nach der Schlacht an der Alda verließ der Heilige Ulmenburg. Oft ritt er al ein in die Wälder und suchte nach versprengten Kriegern, oder er suchte einsame Waldburgen auf, um den Männern, die in der Wildnis verloren waren, Trost und Beistand zu bringen. Nicht weniger als fünf Ordenshäuser gründete er in dieser Zeit, und es heißt, die Heidenfürsten von Drusna hätten einen Heuwagen vol er Gold als Belohnung für denjenigen geboten, der ihnen den Kopf des weißen Ritters mit dem Aschenbaum im Schilde bringe.
Doch Tjured hatte dem Heiligen ein anderes Schicksal als den Tod im Heidenlande bestimmt.
Nachdem Arsi, der schlimmste der Heidenfürsten, von einer Dirne ermordet worden war und die übrigen Herzöge endlich um Frieden baten, zog Michel Sarti gen Süden. Dort erwarteten ihn nicht Schwert und Speer. Die Waffen seiner Feinde waren hier Verrat und Gift. Waffen, vor denen ihn seine weiße Rüstung, die Tjured selbst ihm zum Geschenk machte, nicht schützen konnte. (...)«
Zwei weitere Jahre später
Steppenschiffe
Der Falke landete auf der Brustwehr des Steppenschiffs. Ungeduldig wartete Orgrim darauf, dass der Elf, der mit geschlossenen Augen im Schneidersitz vor ihm auf dem Boden saß, endlich aus seinem magischen Schlaf erwachte. Der Troll misstraute den wenigen elfischen Verbündeten in seiner Streitmacht zutiefst. Sie waren allesamt Wendehälse oder aber Verräter, die ihre Unterwürfigkeit nur heuchelten. Er wünschte sich, über mehr Lutin zu verfügen, die er als Späher einsetzen könnte.
Als der Elf endlich die Augen öffnete, waren sie schreckensweit.
»Was?«, herrschte ihn der Trollfürst an. »Was hast du gesehen?«
»Es sind Tausende. Sie sind überall. Rings herum im Hügelland. Auf viele Lager aufgeteilt. Aber es sind Tausende! Und es sind auch Elfen unter ihnen. Sie haben Jagd auf mich gemacht. Einen habe ich erkannt. Fenryl von den Normirga, den Grafen vom Rosenberg in Carandamon. Er unterstützt die Rebellen. Ich habe auch Bogenschützen von den Maurawan gesehen. Und Kentauren aus Uttika. Sie haben ein eigenes großes Heerlager im Westen von hier. Da war auch ein Lamassu. Und Heerscharen von Dienern. Aber das Wichtigste ist eine Botschaft für dich, Herzog.«
Orgrim musste an sich halten, um dieses Elflein nicht beim Kragen zu packen. »Mit dem Wichtigsten kommst du zum Schluss? Heraus damit!«
»Sie haben gesagt, dass sie von dieser Stunde an jeden Falken, der nicht zu ihnen gehört, vom Himmel holen werden.« Der Elf deutete nach Westen. »Siehst du? Dort, nahe dem Heerlager der Uttiker, stehen zwei Falken am Himmel. In jeder Himmelsrichtung haben sie Falken. Wir können sie nicht mehr ausspähen.«
Orgrim ließ sich Zeit, den Himmel zu betrachten. Es stimmte. Sieben Falken konnte er erkennen. »Dann sind wohl schlechte Zeiten für die Steppenfalken dieser Gegend angebrochen«, sagte er schließlich mit einem Lächeln.
»Was sollen wir nun tun?« Baidan, dem Sprecher der Kobolde, war ganz offensichtlich nicht zum Schmunzeln zumute. »Sie werden uns unsere Augen nehmen. Wie werden wir uns wehren?«
»Ich werde nach einer Schamanin schicken. Dieser Kampf ist nicht verloren. Er wird sie am Ende mehr Blut kosten als uns. So wie diese ganze seltsame Belagerung. Mir macht es keine Sorgen, dass sie jetzt auch noch ein paar Falken gegen uns aufgeboten haben. Mich beunruhigt, dass ich nicht erkennen kann, welchen tieferen Zweck diese Belagerung hat. Nestheus hat es geschafft, die Kentaurenstämme der Steppe zu einigen und sich sogar wieder mit Katander von Uttika auszusöhnen, obwohl der Bronzefürst sein Todfeind war. Nestheus ist gewiss kein Narr! Ich kann nicht verstehen, warum er dieses Gemetzel veranstaltet. Er muss sich einen Nutzen davon versprechen. Und dass ich diesen Nutzen nicht erkennen kann, das beunruhigt mich, Baidan. Ein paar Vögel sind da nebensächlich.«