Endlich waren sie aus der Reichweite der Torsionsgeschütze. Katander atmete auf. Für heute war es geschafft. Er hatte dem Schicksal einen weiteren Tag abgetrotzt. Er beschleunigte seine Gangart und preschte dem Lager auf der anderen Seite des Hügels entgegen.
Er fand Nestheus bei den Elfen. Sie waren nur eine kleine Gruppe, aber beim Schwafeln und Pläneschmieden waren sie immer ganz vorne dabei. Graf Fenryl hatte das Lager der Trolle nachbauen lassen. Für jeden der Wagen gab es einen kleinen Holzklotz. Die flachen Hügel, die das Feldlager einschlossen, waren mit Sandhaufen nachempfunden.
»Wie ich sehe, hat dich immer noch keine Kugel gefunden.« Nestheus hob den Blick vom Tisch. Es lag keine Verachtung in seinem Tonfall, aber eine gewisse Schärfe. So sprach ein Vater mit einem Sohn, der irgendeinen Unfug angestellt hatte.
Der Blick des jungen Kentauren war wie eine frisch geschliffene Klinge. Seine Haut war dunkel vom Leben im Wind. Feine Falten zeichneten sein Gesicht. Die Jahre der Flucht hatten ihn vor der Zeit altern lassen. Wie sein Vater hatte er das lange Haar mit einem geflochtenen Lederband zurückgebunden. Sein Fell war makellos weiß, der Leib gestählt. Auf Brust und Armen sah man feine weiße Linien. Narben aus Dutzenden von Kämpfen.
Wie immer war Kirta an seiner Seite. Sie war immer noch hübsch, das musste Katander ihr zugestehen. Aber zu mager. Man konnte ihre Rippen zählen. Daran hatte sich nichts geändert! Wie hatte Nestheus diese halbverhungerte Schimmelstute nur seiner Tochter vorziehen können! Das weißblonde Haar fiel ihr über die Schultern. Sie trug einen Köcher um die Hüften, und ein breiter, mit silbernen Amuletten geschmückter Schwertgurt lief zwischen ihren kleinen Brüsten hindurch. Eine Stute zu einem Kriegsrat einzuladen! Das war gegen jede Tradition. Aber Traditionen hatte der Bastard ja schon immer mit den Hufen getreten. Es hieß, er dichte Verse über sie. Ein dichtender Kriegsherr!
»Gibt es etwas Neues von ihnen, Fürst?« Ihre Stimme klang angenehm. Sie fragte höflich. Sie war immer freundlich zu ihm, obwohl er einst Kopfgeldjäger hinter ihr her-geschickt hatte. Und sie wusste das!
»Orgrim steht auf dem einzigen großen Wagen im äußeren Wall und glotzt sich die Augen aus dem Kopf. Er beobachtet die Hügel. Nicht mehr lange, und er wird einen Ausfall befehlen. Trolle sind nicht dazu geschaffen, auf ihren fetten Hintern zu sitzen und einfach abzuwarten.«
»Er ist zu klug, um aus dem Lager herauszukommen«, widersprach Nestheus. »Er weiß, dass es für ihn hier draußen zwischen den Hügeln nichts zu gewinnen gibt. Wir sind zu schnell. Wir bestimmen, wann und an welchem Ort gekämpft wird. Er wird warten.«
»Aber nicht mehr lange«, wandte der Elfenfürst Fenryl ein. Er trug selbst jetzt, im Spätsommer, ein weißes Wams, was ihn im trockenen, goldbraunen Gras zu einem unübersehbaren Ziel im Kampf machte. Als Veteran der Schlacht um Phylangan hatte er sich einen Ruf für seine Tapferkeit erworben. Leider hatte er so gut wie gar keine Truppen mitgebracht, als er sich den Kentauren angeschlossen hatte. In Katanders Augen sollten hier Befehlshaber stehen, die auch Truppen hinter sich hatten und die nicht lediglich Gäste in einem fremden Krieg waren.
»Warum, glaubst du, wird er gehen?«, fragte ihn der Fürst von Uttika herablassend.
»Gehörst du zu der seltenen Sorte von Elfen, die wie Trolle denken?«
Fenryl reagierte auf den Spott, indem er lediglich eine einzelne Braue hob, und das auf eine so selbstgefällige und verachtende Art, wie es nur Elfen konnten. »Ich würde eher sagen, dass Orgrim zu den wenigen Trollen gehört, die wie Elfen denken können. Er braucht seine Fähigkeiten als Feldherr nicht mehr zu beweisen. Er weiß, dass er hier nicht siegen kann. Deshalb wird er sich zurückziehen, es sei denn ... « Der Elf sah ihn an, als erwarte er, dass er nun den Satz vollendete.
»Was?«, schnaubte Katander gereizt.
»Es sei denn, wir überzeugen ihn von unserer Dummheit. Was würdest du denn für eine Strategie vorschlagen, Fürst von Uttika?« Fenryl lächelte ihn an, aber er hätte ihm genauso gut ins Gesicht spucken können, so frech war dieses Grinsen.
»Willst du unterstellen, ich sei dumm?«
»Habe ich das gesagt?«, fragte Fenryl mit aufreizender Gelassenheit.
»Ruhig. Wir schlagen unsere Schlachten hinter dem Hügel dort, nicht hier«, unterbrach Nestheus sie beide. »Ein Elf, der feige auf einem Hügel steht, während an dere kämpfen, kann mich nicht beleidigen«, sagte Katander und hoffte, der kleine Aufschneider würde sich dazu verleiten lassen, beim nächsten Kampf seinen Mut zu zeigen. »Ich finde, wir sollten noch einmal versuchen, eine Bresche in die Wagenburg zu schlagen.«
»Und wie, Fürst? Glaubst du, du könntest mit deinem mächtigen Strahl einen der Wagen umpinkeln?«
Ruhig bleiben, ermahnte sich der Uttiker stumm. Der wartet nur darauf, dass du ihn anschreist. »An etwas Ähnliches hatte ich tatsächlich gedacht. Ich glaube, die Wagen sind sehr kopflastig. Wenn mein Strahl sie nur weit genug oben trifft, dann werden sie stürzen. Ich habe folgenden Plan ... «
Eine bessere Welt
»Würdest du bitte weitergehen, Bruder? Man weiß nie, wer als Nächstes durch den Albenstern tritt.«
Baidan folgte dem Befehl, doch trat er nur wenige Schritte zur Seite, um sich erneut staunend umzusehen. So oft hatte er von Emerelles Thronsaal gehört. Doch er war ganz anders, als er ihn sich vorgestellt hatte. Ein Vorhang fallenden Wassers verbarg die Wände. Es gab keine Decke, und er konnte sehen, wie sich hoch über den Türmen der Burg dunkle Gewitterwolken ballten, die die Hitze des Spätsommertages bald in einem Sturzregen ertränken würden.
Der Lichtbogen des magischen Tors erzitterte. Farben wirbelten durcheinander. Die Schlangen des großen Bodenmosaiks schienen sich zu bewegen. Aber in dem überfüllten Saal nahm niemand Notiz davon.
Ein bocksbeiniger Faun erschien unter dem Lichtbogen und zog ein verängstigtes Maultier hinter sich her. Eine ganze Karawane, eskortiert von bis an die Zähne bewaffneten Minotauren, folgte ihm und wanderte durch das hohe Portal des Thronsaals in eine weite Halle, die sich anschloss.
Eine Gruppe von vier Lutin wachte über das Tor. Wieder tanzten die Schlangen des Mosaiks, und erneut änderte sich das Farbspiel des Lichtbogens. Es herrschte ein Kommen und Gehen wie auf einem Markt! Der Thron Albenmarks war verwaist. Das prächtige Fell eines Schneelöwen lag darauf ausgebreitet. Auf den Stufen zum Thron hockte ein Trupp Trolle, die ein Lagerfeuer entzündet hatten, über dem sie irgendein großes, vierbeiniges Tier brieten.
Hunderte Stimmen redeten durcheinander. Alle Sprachen Albenmarks schienen hier versammelt zu sein und zumindest die Hälfte aller Völker.
Ein Schwärm Blütenfeen flatterte an ihm vorüber. Auf dem Mauerkranz des Thronsaals kauerten ein Gargoyle und eine Harpyie, in ein Gespräch vertieft.
»Kann ich dir helfen? Bist du zum ersten Mal hier, Bruder?« Einer der Lutin, die über den Albenstern wachten, war an seine Seite getreten.
Baidan nickte verlegen. »Ja. Ich bin ein Gesandter des Herzogs Orgrim und ersuche in dringender Angelegenheit um eine Audienz beim Kronrat.«
»Natürlich ist es dringend«, sagte der Lutin müde. »Das ist es immer. Und immer sind es Herzöge, Könige oder andere bedeutende Würdenträger, die Boten schicken. Du gehörst zur Snaiwamark-Karawane?«
»Willst du einen Befehl des Herzogs infrage stellen?« Baidan war entsetzt darüber, behandelt zu werden, als sei er irgendein dahergelaufener Bittsteller.
»Das Einzige, was ich mich frage, ist: Warum kommt Orgrim nicht selbst, wenn die Angelegenheit von solcher Bedeutung ist?«
»Weil ein Feldherr mitten in der Schlacht seine Truppen nicht verlässt! Und nun bring mich zum Thronrat, oder die Sache wird ein Nachspiel für dich haben, Bruder!«
Der Lutin leckte sich über die Lippen. »Ich bin am Albenstern leider unabkömmlich.