Anderan legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Dein Auftritt gerade hat mir noch einmal sehr deutlich vor Augen geführt, warum du Krieger geworden bist und nicht Diplomat.« Er lachte leise. »Man sagt einem König nicht, dass die Zeit drängt.«
Baidan drehte sich um. »Muss ich mir Sorgen machen?«
»Die Frage kommt reichlich spät.« Sein Vater lächelte. »Das musst du nicht. Elija hat den Wunsch nach einem Rückzug ausdrücklich unterstützt. Allerdings tut er es allein aus machtpolitischem Kalkül, fürchte ich. Wenn Orgrim abziehen muss, dann wird das seinem Namen schaden. Und indirekt wird es auch König Gilmarak schaden.«
Baidan sah seinen Vater verwundert an. »Warum sollte er sich das wünschen? Er ist durch die Trolle an die Macht gekommen.«
»Er glaubt, dass wir Kobolde auch ohne Trolle herrschen könnten. Er träumt vom Thron.« »Und du, Vater?«
»Ich muss gestehen, dass ich manche seiner Ideen bestechend finde. Er ist ein unglaublicher Denker. Er hat Visionen. Auf gewisse Weise ist Gilmarak sein Geschöpf, auch wenn der Troll gelegentlich dazu neigt, die Ideen Elijas zu weit zu treiben.«
Anderan deutete hinab zur Zeltstadt. »Das ist sein Werk!«
»Und du heißt das da unten gut?«
»Ich heiße es gut, wenn das Volk sein Schicksal in die eigenen Hände nimmt. Zu Emerelles Zeiten haben diese Mauern nur selten Gäste gesehen, die keine Elfen waren.
Gilmarak und Elija greifen nach ganz Albenmark. Man mag über den Gesetzeskodex der Trolle denken, was man will, aber er ist in alle Himmelsrichtungen getragen worden. Es gibt kaum eine Siedlung nennenswerter Größe, in der dem neuen Gesetz nicht Geltung verschafft wurde. Und die Kinder Albenmarks haben verstanden, dass sie hierherkommen können. Sie werden hier angehört. Sie haben einen Herrscher, der ein offenes Ohr für ihre Sorgen hat. Und wenn sie nicht zu ihm selbst gelangen, so kommen sie doch zumindest vor einen von ihm einberufenen Rat. Hast du eine Vorstellung, wie tiefgreifend die Abschaffung des Geldhandels und die Aufhebung aller alten Schulden diese Welt verändert haben? Das einfache Volk ist nun frei. Werte werden wieder durch Arbeit erschaffen. Niemand lebt mehr in Schuldknechtschaft von Wucherern, die allein ihre blutsaugerischen Zinsen fett gemacht haben. Geld gebiert nicht mehr neues Geld. Niemand kommt auf die Idee, dass er, wenn er eine Kuh verleiht, ein Jahr später ein Mammut zurückverlangen könnte. Albenmark ist gerechter geworden.«
»Besonders wenn man ein Troll ist!«
Sein Vater nickte. »Das lässt sich nicht leugnen. Doch die Veränderungen sind noch nicht abgeschlossen. Ich wünschte, du könntest dabei sein, wenn Elija von der Welt spricht, die er erschaffen möchte. Es ist eine Welt, wie die Alben sie sich gewünscht hätten. Gerecht und friedlich. Doch dahin ist es noch ein weiter Weg. Zunächst gilt es, sicherzustellen, dass wir nie wieder in die Tyrannei der selbstherrlichen Elfen zurückfallen.«
Baidan blickte auf das heillose Durcheinander der Zeltstadt. »Ist das die Ordnung der Welt, von der du träumst?«
»Wir befinden uns im Übergang, Junge. Da kann es keine Ordnung geben, weil alles sich ändert. Und denk einmal darüber nach, wie viel Ordnung die Freiheit verträgt.«
Baidan schüttelte den Kopf. »Ich komme von einem Ort, an dem es den Tod bedeutet, wenn ich mich hundert Schritte von der schützenden Schiffsburg entferne. Die Steppe steht in Flammen, Vater. Das kann doch nicht die Welt sein, von der du träumst. Dort tobt ein mörderischer Krieg. Emerelles Herrschaft hat Frieden gebracht.«
»Einen Friedhofsfrieden, Junge. Es war die Ruhe der Gräber, die herrschte. Wir haben hier in der Burg Beweise dafür gefunden, dass sie mehre Meuchler gedungen hat, um Freidenker ermorden zu lassen. Und das waren keine Einzelfälle.«
»Im Windland wird auch nicht vereinzelt gestorben. Wenn der Wind aus der falschen Richtung bläst, vermag man in der Schiffsburg kaum noch zu atmen, so viele faulende Kadaver liegen dort im Gras.«
»Das ist die Unruhe des Übergangs in eine freiere Welt. Jedes Opfer, das wir heute bringen, wird in Zukunft Hunderte Leben retten.«
Baidan dachte an die schreckliche Hungersnot, die auf die Abschaffung des Geldhandels gefolgt war. An die gestürmten Getreidespeicher. An die langen Flüchtlingskolonnen all jener, die ihre Städte verlassen hatten, weil diese sie nicht mehr zu ernähren vermochten. Er musste eingestehen, dass dieser Schrecken Vergangenheit war. Viele neue Dörfer waren entstanden. Und weil aller alte Besitz aufgelöst worden war, besaß niemand mehr Land, als er durch eigene Arbeit bewirtschaften konnte.
Baidan hatte die Elfen nie gehasst, und doch hatte er große Genugtuung empfunden, als er zum ersten Mal einen Elfen an einem Pflug hatte stehen sehen. Manchmal jedoch hatte er auch das Gefühl, dass die Welt an Schönheit verloren hatte. Er dachte an die verwüstete Burg, die immer mehr einer Trollhöhle ähnelte. Und er fragte sich, welch blühende Parklandschaft sich wohl einst dort erstreckt hatte, wo sich nun das gewaltige Zeltlager befand. Hatten sie ihre Welt besser gemacht? Er wusste es nicht.
Und er war froh, dass er nur ein Krieger war und nicht einer von jenen, die mit den besten Absichten die Welt veränderten und dabei Ströme von Blut vergossen. Ihre einzige Legitimation war dabei die Hoffnung auf eine Zukunft, die niemand kannte.
Sosehr sein Vater auch eine goldene Zukunft heraufbeschwor - nein, er sollte lieber sagen: eine bessere Zukunft, denn Gold war ja nichts mehr wert und wurde von Gilmarak eingezogen -, Baidan wusste, wie viele der einfachen Handwerker und Bauern der Herrschaft Emerelles nachtrauerten. Und wie sollte man es ihnen verübeln?
Sie wussten nichts von den Visionen seines Vaters oder Elija Glops’. Sie hatten nur tief zu spüren bekommen, was es hieß, in einer Welt zu leben, in der altes Recht nichts mehr galt und in der ein neues Recht noch nicht tief verwurzelt war.
»Woran denkst du, Junge?«
»An die Schiffsburg«, antwortete er nach kurzem Zögern. Er wusste, dass sein Vater seine Gedanken nicht billigen würde.
Anderan lächelte. »Du bist ein schlechter Lügner. Gut, dass du ein Krieger geworden bist.«
Horner und Kesselpauken
Orgrim beobachtete, wie sich im letzten Tageslicht die Kentauren formierten.
Tausende. Überall rings auf den Hügelkuppen. Gerade außerhalb der Reichweite der Torsionsgeschütze. Sie bliesen Hörner und schlugen mächtige Kesselpauken. Der infernalische Lärm übertönte die Geräusche des Lagers. Nur das Fauchen einer unruhigen Hornschildechse, die mit ihren Schwanzschlägen das Erdreich aufwühlte, war noch lauter.
Orgrim drehte sich um und blickte über den weiten Kreis des Lagers. Er spürte die Anspannung der Arbeiter und Viehtreiber, Steinmetzen, Köche, Schuhmacher und Huren. Aber sie hielten sich ganz gut. Es war nicht der erste Angriff der Kentauren, und nie hatten sie den schützenden Wall der Steppenschiffe durchbrochen. Allerdings schlugen ihre Pfeile ins Lager, wenn sie dicht genug herankamen. Die Kentauren schössen steil in den Himmel, und ihre Geschosse schlugen ungezielt auf. Die Heerschar der Arbeiter aber war so dicht gedrängt, dass jeder siebte Pfeil ein Ziel fand.
Baidan hatte das errechnet. Der Kobold kam auf seltsame Ideen. Für ihn war Krieg nicht der Kampf Mann gegen Mann. Es war ein Krieg der Zahlen. Orgrim wusste, dass Mut oder Feigheit Zahlen bedeutungslos machen konnten. Dennoch kamen sie beide fast immer zu denselben Schlussfolgerungen. Und dass Baidan aus eigenem Antrieb den Boden des Lagerplatzes hatte prüfen lassen, um sicher zu sein, dass sie nicht in einem trockenem Flussbett standen, hatte dem Troll gut gefallen. Er würde Baidan an seiner Seite behalten!
»Schießt doch endlich ein paar von diesen Pferdeärschen die Köpfe weg!«, fuhr Zargub den Kobold an, der die beiden schweren Torsionsgeschütze auf dem Gefechtsdeck des Steppenschiffs befehligte.
»Sie sind zu weit entfernt. Sie kennen unsere Reichweiten inzwischen genau. Das wären vergeudete Schüsse.«
»Unruhig?« Orgrim wusste inzwischen, dass Zargub kein Troll für eine Belagerung war. Er war ein tollkühner Angreifer, aber das hier ging gegen sein Naturell. Leider konnte er den Rudelführer nicht einfach austauschen, ohne dass dieser sein Gesicht verloren hätte.