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Aber Adrien gestattete sich nur flüchtige Blicke auf all diese Wunder, denn er reiste mit dem Tod, und er hatte Angst, dass er, wenn er den Alten aus den Augen ließ, bald auch nicht mehr zu den Lebenden gehören würde.

Seit der Schiffer ihn im Verhau im Heck besucht hatte, hatten sie beide kein Wort mehr miteinander gewechselt. Fast zwei Tage war das her. Adrien musste inzwischen darum kämpfen, dass ihm die Augen nicht zufielen. Der Alte schien keine Müdigkeit zu kennen. Natürlich nicht! Er war jenseits aller Müdigkeit.

In der ersten Nacht hatte Adrien noch gehofft, der Widergänger würde im ersten Morgenlicht verschwinden. So war es in allen Geschichten, die er je über die Geschöpfe der Nacht gehört hatte. Aber der Schiffer blieb. Er hielt den Lastkahn auf Kurs.

Unbeirrbar. Schweigend. Nur selten blickte er über die Schulter zu Adrien. Seine blauen Augen schienen alterslos. Nicht ein einziges Mal zwinkerte er.

Der Junge musste gähnen. Er streckte sich und zwang sich dann, ganz gerade zu sitzen. Langsam wurde ihm bewusst, dass er in diesem Duell unterliegen würde.

»Wohin bringst du mich?« Seine Kehle war vom langen Schweigen rau. Die Worte fühlten sich fremd und sperrig an.

»Zum Steinernen Wald.« Der Schiffer blickte nicht einmal über die Schulter. »Ist dort deine Gruft?«

Der Alte stieß seinen Stecken tief ins Wasser und lenkte das Boot an einer Klippe vorbei. Der Fluss strömte hier schneller. Die Stimme des Wassers war von einem leisen Flüstern zu einem gehetzten Raunen geworden. Es schien der weiten Berglandschaft entfliehen zu wollen. Weißer Schaum umspülte die Felsen.

»Bringst du mich in deine Gruft?«

»Du wirst allein zum Steinernen Wald hinaufsteigen.«

Adrien brauchte eine Weile, um die Worte zu erfassen. Er würde ausgesetzt werden!

Hier inmitten der Wildnis. In dieser verrufenen Gegend, in die sich nicht einmal Räuber wagten. Der Steinerne Wald ... So lange er sich erinnern konnte, hatte er Geschichten von der versunkenen Stadt in den Bergen gehört. Es hieß, dort lägen unermessliche Reichtümer verborgen. König Cabezan war einst mit einem Heer in die Berge gezogen, um Säulen für seinen Palast zu holen. Aber selbst im Schutz seiner Krieger hatte er sich nicht sehr weit in die Berge gewagt. Mit nur vier kümmerlichen Säulen war er zurückgekehrt. Seine Männer aber hatten Hunderte Geschichten in die Städte Fargons getragen. Geschichten von den unheimlichen Stimmen der Berge. Von Lichtern, die um die höchsten Säulen tanzten. Von einem gläsernen Tal und Geistern.

»Ich kann da nicht hingehen«, sagte er leise. »Niemand geht dahin.«

»Dann werde ich dich ertränken«, entgegnete der Schiffer so beiläufig, wie man eine lästige Fliege erschlug. Und Adrien hatte nicht den geringsten Zweifel daran, dass er es ernst meinte.

Burg Elfenlicht

Skanga nahm seine Aura in sich auf. Die fließenden Farben der Angst.

»Er ist unverletzt«, flüsterte Birga ihr ins Ohr.

Die alte Schamanin seufzte. Das sah sie auch. Obwohl sie blind war. Blind für all das, was sich dem Auge aufdrängte, um die Wahrheit zu verschleiern. Wie viel klarer waren da die magischen Auren! »Wie viele?«

»Wir haben siebzehn Köpfe gezählt. Siebzehn, die noch ... «

Skanga las Scham und Schrecken in ihm. Sie kannte Madra nicht, aber um zu den Leibwachen eines Rudelführers zu gehören, musste er seinen Mut in vielen Kämpfen unter Beweis gestellt haben.

»Hast du meiner Herrin einen der Köpfe mitgebracht?«

Die Farben von Madras Aura gerieten durcheinander. Sie verwirbelten zu einem schmutzigen Grün.

»Ich stelle die Fragen«, zischte Skanga verärgert. Der Kerl war schon aufgewühlt genug! »Wie lange ist es her?«

»Drei Tage. Ein Lutin hat mich ...«

Sie hob den Kopf, und der tote Blick ihrer weißen Augäpfel ließ ihn verstummen. Ihr war schon klar, dass ihn ein Lutin gebracht hatte. Man musste das Netz der goldenen Pfade betreten, um in nur drei Tagen von Feylanviek bis nach Burg Elfenlicht zu gelangen.

»Wie starben sie?«

»Jeder auf eine andere Art. Die meisten ... Viele waren zerrissen, als habe ein großes Raubtier sie angefallen. Aber es war ... anders. Grausamer.«

Skanga versuchte sich den Stadtpalast vorzustellen. Die Toten ... Einen Anblick, der einen Troll erschütterte. Wen hatten diese dämlichen Welpen eingefangen, um ihn zu quälen? Welche zwei Elfen hatten solche Macht? Hatte Noroelle vielleicht einen Weg gefunden, aus ihrer Verbannung zu entfliehen? Die Hofmagierin hatte einen Bastard geboren und war verbannt worden. War sie in der Einsamkeit wahnsinnig geworden?

Und der Krieger an ihrer Seite, der Elf mit dem langen, blonden Haar, war das Farodin? Wer vermochte in wenigen Augenblicken einen Rudelführer und seine Leibwache niederzumetzeln?

Skanga erhob sich. Ihre Gelenke krachten. Wohlvertrauter Schmerz durchbohrte ihr die Knie und den Rücken. Sie sollte ein wenig auf und ab gehen. Das half beim Grübeln. Manchmal.

»Komm her, Madra!« Sie stützte sich auf den Arm des Kriegers. »Gharub hat die Elfe also dafür verurteilt, dass sie ihm Zeit gestohlen hat.«

»Ja.«

Die Schamanin roch die Angst des Kriegers. Er schien sich sicher, dass sie ihn bestrafen würde, sobald sie mit ihm fertig war. »Diese Anklage hat sich ein Kobold ausgedacht, nicht wahr?«

»Ja.«

»Und der wurde auch getötet?« »Ja.«

Skanga musste an sich halten. Geschwätzigkeit war ihr zuwider, aber Madra übertrieb es mit seiner Wortkargheit. Sie überlegte, ob sie nach Feylanviek reisen sollte, um sich ein besseres Bild machen zu können. Selbst wenn die Kobolde schon alles gesäubert hatten, hinterließen so blutige und grausige Ereignisse eine Spur in der Aura des Palastes. Zumindest für eine kurze Zeit. »Was geschah mit den Toten?«

»Ich habe Gharubs halbe Leber gegessen und einen Mund voll von seinem Herzen. Er war ein großer Krieger ... «

Skanga zwackte Madra in den Arm, um ihn wieder zum Schweigen zu bringen. Sie wusste nur zu gut, was mit Helden geschah. »Und die Übrigen? Habt ihr die in den Fluss geworfen? Es gibt doch einen Fluss bei Feylanviek, oder?«

»Sie sind verbrannt.«

Natürlich. Ein Trollkrieger, der etwas auf sich hielt, würde sich lieber eine Hand abschneiden, als von der Leber eines Kämpfers zu essen, der in seiner Aufgabe versagt hatte. Die Ehre, verspeist zu werden, blieb allein Helden vorbehalten.

Grübelnd schlurfte Skanga vor sich hin, ohne auf den Weg zu achten. König Gilmarak saß noch nicht lange genug auf dem Thron von Albenmark, um sich dort sicher zu fühlen. Und er war viel zu jung, um ein guter Herrscher zu sein. Sie bemühte sich, ihn zu führen, aber sie konnte nicht Tag und Nacht an seiner Seite verbringen. Leider hörte er nur allzu oft auf andere Berater, vor allem auf diesen verfluchten Lutin Elija Glops.

Gharub hatte nun also erlebt, wozu es führte, wenn man sich allzu sehr diesen verblen-deten Kobolden anvertraute. Seine spät gewonnenen Einsichten würde er nicht mehr weitergeben können.

Skanga spielte gedankenverloren mit dem Albenstein, der halb verborgen zwischen all den anderen Amuletten von ihrem Hals hing. Sie dachte an ihre alte Lehrerin Mahta Naht. Mahta hatte Freude daran gehabt, sie zu quälen. Aber sie war klug gewesen. Der Weg zur Macht ist lang und beschwerlich, aber er ist ein Spaziergang im Vergleich zu dem Weg, der vor dir liegt, wenn du einmal gewonnene Macht behalten wil st. Darum überlege dir gut, nach wie viel Macht du strebst.

Diese Worte waren Skanga seit dem Sieg über Emerelle oft durch den Kopf gegangen.