Burg Elfenlicht war umringt von Hunderten Zelten. Es sah aus, als würde die stolze Elfenfestung belagert. Und so war es auch fast. Wahre Heerscharen von Bittstellern und Schleimern hatten sich eingefunden. Manche warteten wochenlang auf eine Audienz bei Gilmarak.
Die meisten von ihnen glaubten, dass sie den jungen König überlisten könnten, weil er fast noch ein Kind und obendrein nur ein dummer Troll war. Der Lutin Elija Glops hatte Gilmarak bei diesem endlosen Gerede im Thronsaal oft guten Rat gegeben. Aber der verdammte Lutin war zu klug, als dass man ihm tief vertrauen könnte. Skanga hasste es, hier zu sein. Sie hatte sich den Sieg über die Elfen anders vorgestellt.
Wenn sie ehrlich war, hatte sie sich kaum Gedanken darüber gemacht, was geschehen würde, wenn Emerelle von ihrem Thron vertrieben war. Ihr ganzes Denken hatte nur um den Kampf gegen die Königin und die Heere ihrer Verbündeten gekreist. Auf das, was danach kam, war sie völlig unvorbereitet gewesen! Schon allein diese Burg! Es hatte Jahre gedauert, die von den Elfen besetzten Höhlenfestungen der Snaiwamark wieder wohnlich zu machen. Mit dieser Burg würde das wohl niemals gelingen.
Die alte Trollschamanin lauschte auf das Rauschen des Wassers. Man hörte es fast überall in der Burg. Es gab Dutzende Brunnen. Und dann dieser Thronsaal ... Kein Troll, der halbwegs bei Verstand war, käme auf die Idee, sich eine Höhle zu suchen, in der Wasser an allen Wänden hinablief, und die obendrein keine Decke hatte! Es war unbegreiflich, was in den Köpfen von Elfen vor sich ging! Sie führten sich auf, als seien ihre Urahnen Biber gewesen.
Und dann die Silberschale bei dem Thron. Es hieß, Emerelle habe ganze Tage damit verbracht, in sie hineinzustarren. Diese Burg war an sich schon verrückt. Aber sich diesem Ding anzuvertrauen, das war der blanke Wahnsinn! Im ganzen Thronsaal konnte sie die bösartige Aura der Schale spüren. Sie war von dunkler Magie durchdrungen. Schlimmer noch. Etwas Lebendiges war an ihr. Ein bösartiger Geist. Skanga hatte so etwas noch nie gefühlt. Musste man blind sein, um so deutlich zu erkennen, womit man es zu tun hatte? Sie hatte mit niemandem darüber geredet. Auch mit Birga nicht.
Ihre einfältige Schülerin hielt die Silberschale für harmlos. Sie erzählte, dass Vögel aus dem Park herbeigeflogen kamen, um in der Schale zu baden.
Blendwerk! Die Schale tat harmlos. Am besten sollte man sie in den Schlund eines der Vulkane in der Snaiwamark werfen. Das war die einzige Art, mit solchen Werken dunkler, undurchsichtiger Magie umzugehen! Ein einziges Mal hatte sie den Fehler gemacht, in die Silberschale zu blicken. Dass sie blind war, hatte sie nicht geschützt. In aller Deutlichkeit hatte die verwunschene Schale ihr gezeigt, wie sie sterben würde.
Skanga wusste nicht, wann ihr Schicksal sie ereilte. Aber sie wusste, dass sie ein langsamer, schmerzvoller Tod ohne Würde erwartete. Sie würde zuletzt darum betteln, nicht mehr leben zu müssen.
Nur einen kurzen Augenblick hatte sie in die Schale geblickt, aber sie hatte das Gefühl gehabt, die Ereignisse von vielen Tagen Herzschlag für Herzschlag miterlebt zu haben.
Das Gesehene verfolgte sie in ihren Träumen. Sie war nicht ängstlich ... Aber dieser eine Blick in die Silberschale hatte ihr Leben verändert. Erst jetzt hatte sie tief begriffen, welche Gnade es war, nicht um seinen Tod zu wissen. Von nun an würde ein Schatten auf ihrem Leben liegen.
»Skanga?« Birga zupfte an ihrem Gewand. Diese kleine Schlampe wusste genau, dass sie es nicht mochte, von ihr berührt zu werden.
»Was!«
»Madra ist immer noch da. Soll er gehen? Du scheinst sehr tief in Gedanken. Willst du allein sein?«
Diese geheuchelte Unterwürfigkeit. Sie hasste das! »Hab ich euch entlassen?«
»Nein. Ich dachte nur ... «
»Hab ich dir erlaubt, zu denken?«, blaffte Skanga. »Du tust nur, was ich dir sage. Das ist alles, was ich von dir erwarte.«
Birga sagte nichts mehr. Es war still bis auf das Rauschen des Wassers. Skanga sah sich Madra an. Etwas an seiner Aura war eigenartig. Ihr fehlte etwas ... Aber sie konnte nicht genauer benennen, was es war.
Ein Pulk schnatternder Kobolde kam aus dem Thronsaal. Als sie sie bemerkten, verstummten die kleinen Nichtsnutze. Mit hastigen, trippelnden Schritten huschten sie vorüber.
Skanga umschloss den Albenstein mit der Faust. Seine Magie linderte die Schmerzen in ihrer gichtverkrüppelten Hand. Sie musste ihre Gedanken ordnen! Feylanviek! Wer waren die beiden Elfen gewesen? War die Tat nur ein Racheakt an einem tyrannischen Kobold und einem dummen Troll? Oder war es der Beginn von etwas Größerem?
Planten die Elfen eine Revolte? Dass Emerelle einfach aufgegeben hatte, hatte die meisten ihrer Fürsten überrascht. Noch war es nicht zu Aufständen gekommen. Aber man durfte dieser verdammten Elfenbrut nicht trauen. Sie sol te sich selbst ein Bild davon machen, was in Feylanviek geschehen war. Außerdem war es ein guter Vorwand, diese verfluchte Elfenburg zu verlassen.
»Sind alle Leichen der Trolle fortgeschafft worden?«
»Ja, Skanga.«
»Es gab auch tote Kobolde, nicht wahr? Du hast nichts darüber berichtet.«
»Es sind ja nur Kobolde. Keine Krieger ...«
»Wie viele waren es?«, drängte sie. Deutlich spiegelte sich die Anspannung in seiner Aura. Zweifel überfielen ihn. Er befürchtete, etwas falsch gemacht zu haben.
»Ich weiß es nicht.«
»Haben die Kobolde sauber gemacht?«
Er räusperte sich. »Ich war nicht so lange dort. Es wäre viel Arbeit. Und es ist noch nicht entschieden, wer die neuen Anführer sein werden.«
Das war doch was, dachte Skanga. Die Geschichte jenes Abends war mit Blut geschrieben worden. Wenn es noch niemand aufgewischt hatte, könnte sie daran ablesen, was genau geschehen war. Vielleicht könnte sie auch herausfinden, wer die beiden Elfen gewesen waren. Sie hatte einen Verdacht. Zugleich hoffte sie aus tiefstem Herzen, dass sie sich irrte. Siebzehn tote Trolle. Und nur zwei Elfen! Der einzige Elfenkrieger, dem sie so etwas zugetraut hätte, war tot. Zumindest behauptete das Elijah Glops. Wenn der intrigante kleine Lutin gelogen hatte, dann hätte sie einen Grund, dem Mistkerl den Hals umzudrehen. Allein das war schon die Reise nach Feylanviek wert.
Ein Weg für Narren
Falrach blies warmen Atem auf seine gefalteten Hände. Die Kälte würde ihn töten, wenn sie noch lange anhielt. Nein, das stimmte nicht ganz ... Die Kälte und sein Stolz.
Ein Wort von ihm würde genügen, und Emerelle würde ihn mit einem Zauber vor dem bitteren Frost beschützen. Sie ging nur wenige Schritt vor ihm. Doch ihre Gestalt war kaum mehr als ein Schatten im dichten Schneetreiben.
Wieder blies sich Falrach auf die Hände. Wie hatte es Ollowain geschafft, in diesem Körper so lange zu überleben? Die Elfen aus dem Volk der Normirga lernten schon als Kinder jene Worte der Macht, welche die Kälte bannten. Sie konnten in leichten Seidengewändern auf ihren Eisseglern über die weiten Ebenen Carandamons dahin-jagen, ohne dass der beißende Frost ihnen in die Glieder schnitt. Nur Ollowain nicht ... Er war ganz ohne Magie geboren. Das war überaus selten unter Elfen. Ein einziger Elf in einem Jahrhundert mochte mit diesem Makel gestraft sein. Falrach fluchte. Und ausgerechnet in so einem Leib war sein Bewusstsein wiedererwacht.
Sein Blick streifte die dunklen Flecken auf den Ärmeln seines dick gefütterten Mantels.
Sie waren gnädigerweise fast ganz unter festgebackenem Schnee verborgen. Ollowain hatte eine andere Gabe ... Die Erinnerung an ihren Besuch im Gerichtssaal mochte nicht vergehen, sosehr er sich auch bemühte, diese Bilder aus seinen Gedanken zu bannen. Der mächtige Bidenhänder, den er unter dem Waffenschmuck in der Eingangshalle des Koboldpalastes gefunden hatte, drückte schwer auf seinen Rücken.
Es war ihm ganz so erschienen, als habe die Waffe ihn in dem Augenblick erwählt, da er sie sah. Ältere, tiefere Erinnerungen an ein vergangenes Jahrtausend hatten ihn beim Anblick des großen Schwertes mit der geschwungenen Klinge durchdrungen.