Drei Lutin wachten am magischen Tor, das sich unablässig öffnete und wieder schloss.
Gerade trat ein Minotaur aus dem Lichtbogen, der einen verängstigten Tanzbären an einem Seil hinter sich herzog.
Einer der Lutin fuhr den Minotauren an. »Weitergehen! Nicht unmittelbar vor dem Tor stehen bleiben!« Auf einen bösen Blick des Minotaurenkriegers kam noch ein halbherziges Bitte.
Nikodemus kannte keinen der drei Lutin.
Etwas unschlüssig, wo er seinen Bruder suchen sollte, verließ er den Thronsaal. Auch in der weiten Halle, die sich anschloss, drängte sich allerlei Volk. Zwei Harpyien kreis ten keifend unter der hohen Decke. Die Vogelweiber stritten wegen eines Stücks Aas, das eine von ihnen in ihren Krallen hielt. Schwarze Federn segelten durch die Luft.
Eine Karawane aus Lasteseln zog in Richtung des Thronsaals. Kobolde, die sich geflochtene Körbe so auf die Köpfe gesetzt hatten, dass ihre Gesichter verborgen blieben, begleiteten die Tiere. Sie waren mit Speeren mit gekrümmten Stichblättern bewaffnet. Alle trugen lange schwarze Jacken und gingen barfuß. Nur ihr Anführer war ganz in scharlachrote Seide gekleidet. Ob sie aus Manchukett kamen? Nikodemus hatte das ferne Reich immer schon einmal besuchen wollen. Auf jeden Fall kamen sie aus einer Gegend von Albenmark, die er nicht kannte. Er sah sich wieder um. Dies traf auf die meisten der Gäste in der Halle zu. Die Welt schien sich sehr verändert zu haben!
Die Wände der Halle erinnerten an blauen Sommerhimmel. Sie schienen nicht stofflich zu sein. Irgendein Illusionszauber der Elfenarchitekten. Allerdings wurde die Il usion erheblich durch Schmutzflecke und Rauchschlieren beeinträchtigt. Und durch die kleinen Türen in der Wand.
Aus einer kam eine Kolonne von Lastenträgern mit wuchtigen Körben auf dem Rücken. Ihre Kleider waren mit rotbraunem Staub bedeckt. Nikodemus erinnerte sich, dass sein Bruder den Plan gehabt hatte, die Koboldgänge unterhalb der Burg weiter auszubauen. Ob noch immer daran gearbeitet wurde?
Ein Trupp Trolle schob sich durch das Gedränge im weiten Saal. Mit Schrecken entdeckte Nikodemus Skanga und ihre Gefährtin Birga inmitten der Schar. Am liebsten wäre er fortgelaufen, doch er wusste, dass dies der sicherste Weg wäre, die Schamanin auf sich aufmerksam zu machen. Er versuchte möglichst unbeteiligt zu tun und blickte zur Decke hinauf. Die Übrigen hier schien das Erscheinen der Schamanin überhaupt nicht zu beeindrucken. Vielleicht wussten sie ja nicht, wer Skanga war und wozu sie fähig war. Seine Angst wurde überwältigend, als er an die War nung Emerelles dachte. Er war ein Trottel! Niemals hätte er herkommen dürfen. Er wusste doch, dass Skanga die engste Beraterin des Trollkönigs war. Seine Anwesenheit hier musste fast unweigerlich zu einer Begegnung mit ihr führen!
Jetzt blieben die Trolle auch noch stehen. Was sollte er tun?
Neben ihm hockte ein Faun auf einem Bündel Gepäck und döste vor sich hin. »Hallo, Bruder!«
Der Faun blinzelte ihn an. »Ich halte nichts von diesem Bruder-Geschwafel.«
Nikodemus ließ sich nicht beirren. Er musste es schaffen, mit dem Kerl ins Gespräch zu kommen und unauffällig zu wirken. »Du hältst nicht viel von dem neuen König und seinen Reformen?«, fragte er in unverbindlichem Tonfall.
Der Faun wirkte alarmiert. »Das habe ich nicht gesagt! Hörst du! Ich lass mir von dir nichts unterschieben. Du ... Wer bist du überhaupt? Ich kenne dich nicht!«
Nikodemus hob beschwichtigend die Arme. »Kein Grund zur Sorge, ich ... «
»Du da!«, rief jemand lautstark.
Der Lutin begann zu zittern.
»Was soll das alles?« Der Faun stand auf. Auf seinen Bocksbeinen war er fast dreimal so groß wie Nikodemus. »Der Troll da hinten will etwas von dir.«
»Wohl eher von dir«, entgegnete der Lutin gereizt. »Ich bin jedenfalls nicht gegen die Reformen und versuche ... «
»He, Fuchskopf! Komm zu meiner Herrin!«
Der Faun grinste böse. »Das war es dann wohl, Fuchskopf.«
Nikodemus blickte über die Schulter. Kurz erwog er, loszulaufen und in der Menge zu verschwinden. Aber das wäre wohl töricht. Er würde nicht weit kommen! »Du bist ein Held«, sagte er sich leise. »Du hast in großen Schlachten gekämpft und an der Seite von Emerelle und Falrach Abenteuer erlebt.«
»Was murmelst du da?« Der Faun wich ein Stück von ihm zurück, als befürchte er, in seiner Nähe zu stehen genüge schon, um ins Unglück gestürzt zu werden.
»Komm her zu mir!«, rief der Troll.
Nikodemus reckte das Kinn vor und drehte sich um. »Ich bin ein Held!«, sagte er erneut. Dann ging er dem Troll entgegen und ließ sich zu dessen Herrin eskortieren. In der Halle war es stil geworden. Eine Ziege meckerte verwundert. Die meisten bemühten sich, irgendwoanders hinzusehen, um nicht auch noch die Aufmerksamkeit der Schamanin zu erwecken. Nur sehr wenige hatten den Mut, neugierig zu gaffen, was da vor sich ging.
»Deine Aura ist ein Leuchtfeuer in kaltem Blau. Was fürchtest du?«, begrüßte ihn Skanga. Ihre blinden weißen Augen blickten wie polierte Marmorkugeln aus ihrem verwitterten, grauen Gesicht. Sie ging krumm und stützte sich schwer auf einen Stock.
»Ich fürchte gar nichts«, stieß er in einem Tonfall hervor, der seine Worte Lügen strafte.
»Ich kenne dich, Lutin. Du bist…«
»Nikodemus Glops, Bruder des Elija Glops!« Er sagte das sehr laut. Ja, er schrie es fast, in der Hoffnung, irgendjemand hier hätte den Mut, seinen Bruder zu holen.
»Ich bin alt, aber nicht taub«, entgegnete die Schamanin. »Nun, da alle Anwesenden wissen, wer du bist, sollten wir unser Gespräch an einem anderen Ort fortführen. Es ist unhöflich, Fremde mit seinem Geschrei zu belästigen.«
Nikodemus schluckte. »Ich habe nichts zu verbergen ... «
»Nein? Deine Aura zeigt mir das Gegenteil.« Sie beugte sich vor. »Und was ist mit deinem Gesicht?«
Er tastete unwillkürlich über seine Schnauze. Hatte Emerelle doch nicht alle Tätowierungen verschwinden lassen?
»Bist du verletzt worden, Nikodemus?«
»Ja.« Er wollte erst etwas von Brandnarben erzählen, entschied sich dann aber, so wenig wie möglich zu lügen.
Er hatte den Verdacht, dass die alte Schamanin Lügen sofort bemerkte. »Emerelle hat mich geheilt«, fügte er noch hinzu. Skanga sollte darüber nachdenken, was für Konse-quenzen es haben mochte, wenn sie ihm etwas antat.
»Nehmt ihn mit!« Skanga drehte sich auf dem Absatz um. Einer ihrer Leibwächter packte ihn unsanft und hielt ihn wie einen jungen Welpen am Nackenfell fest. Es gab kaum etwas, was demütigender für einen Lutin war, als auf diese Weise getragen zu werden.
»Darf ich ihn befragen? Ich bin sicher, er wird mir in einer Stunde alles erzählt haben, was wir wissen möchten.« Es war die Dienerin mit der grässlichen Maske, die Skanga fragte. Und was Nikodemus über sie gehört hatte, jagte ihm bei der Vorstellung, er könne ihr ausgeliefert werden, Schauder über den Rücken.
»Ich habe keine Geheimnisse«, rief er. »Wir können über alles reden.«
Skanga stieß ein meckerndes Lachen aus. »Ich bin sicher, das werden wir.«
Sie brachten ihn in einen großen Raum, der aussah, als sei er früher einmal eine Küche gewesen. »Setz ihn dort ab!«
Ängstlich sah Nikodemus sich um, und was er entdeckte, bekräftigte ihn nur in seinem Entschluss, keinerlei Widerstand zu leisten. Er war nicht der Erste, der hier befragt wurde, auch wenn die einzigen lebenden Geschöpfe, die sich in der Küche befanden, einige Blütenfeen mit ausgerissenen Flügeln waren. Große Gläser dienten als ihre Gefängniszellen.
»Du bist also Emerelle begegnet«, begann Skanga und sah ihn durchdringend mit ihren toten Augen an. »Das kalte Blau deiner Aura ist noch stärker geworden, Nikodemus. Was macht dir solche Angst?«
»Diese Kammer«, stieß er hervor.
»Gibt es noch etwas anderes?«
»Ich ... « Nikodemus überlegte fieberhaft, wie er sei nen Kopf aus der Schlinge ziehen könnte, aber die Angst lähmte seine Gedanken.