Выбрать главу

Sobald das Gelände es zuließ, ließ sie den Hengst im Galopp jagen. Bald entdeckte sie die Schemen von Booten auf dem Wasser. Dann erreichte sie die Flüchtlinge. Sie bildeten kleine Gruppen. Angst stand in ihren Gesichtern. Als Emerelle sich einer der Gruppen näherte, stürmte ein junger Mann mit drohend erhobener Hacke auf sie zu.

»Komm nicht näher! Unsere Familie ist noch gesund! Komm nicht näher!«

Emerelle zügelte den Hengst. Das große Tier schnaubte und stieg. Seine Vorderhufe wirbelten durch die Luft, und der Bauer wich erschrocken zurück. »Geh nicht nach Firnstayn. Dort ist die Pest!«

Ohne den Mann eines weiteren Wortes zu würdigen, jagte sie weiter das Ufer entlang.

Gab es denn nur Unglück und Elend in der Welt der Menschenkinder? Das Tor in der primitiven Holzpalisade stand weit offen. Ein magerer Hund schlich über die verlassene Straße. Emerelle ritt hinauf zum Hügel, auf dem die Festhalle stand. Ein kleines Haus stand in der Nähe. Sein Dach war eingebrochen. Lodernde Flammen schlugen aus der Tür.

Ein Stück entfernt entdeckte die Elfe einen Toten. Jemand hatte ihm ein Schwert durch den Leib gerammt. Es war ein älterer Mann. Seine Kleider aus feinem Tuch verrieten, dass er begütert gewesen sein musste. Er hatte keine Schwielen an den Händen. Ratlos sah Emerelle sich um. Schließlich ging sie zur Festhalle. Als sie Stimmen hörte, ließ sie die Zügel sinken. Sie war unbewaffnet. Gegen Menschenkinder würde sie auch ohne ein Schwert bestehen können.

Sie trat in die Königshalle. Eine kleine Gruppe Bewaffneter kauerte über einer Feuergrube im Boden. Plötzlich sprang einer der Männer auf und zog sein Schwert.

Emerelle war überrascht, dass der Krieger sie so schnell bemerkt hatte. Sie war völlig lautlos eingetreten, und alle an der Feuergrube hatten ihr den Rücken zugewandt. Er musste gespürt haben, dass sie da war. Das war ungewöhnlich für einen Menschensohn.

»Wer bist du?«, fuhr der Krieger sie an.

»Nicht, Answin!« Ein alter Mann ohne Nase drückte den Schwertarm des Kriegers nieder. Ihm standen Tränen in den Augen. »Bei den Göttern, unsere Gebete sind erhört worden!«

Emerelle erinnerte sich an den Alten. Er war einst ein enger Vertrauter des Königs Alfadas gewesen. Und er gehörte zu jenen, die in der Snaiwamark gegen die Trolle gekämpft hatten. »Lambi«, sagte sie freundlich. »Mir scheint, deine Götter halten schützend die Hände über dich.«

Der Alte eilte ihr entgegen. Einen Moment lang fürchtete sie, Lambi werde sie umarmen. Sie wich ein wenig vor ihm zurück. Da blieb er mit ausgebreiteten Armen stehen. Er war ihr so nah, dass sie spüren konnte, dass er befallen war. Schweiß stand ihm auf der Stirn. Seine Augen glänzten zu sehr ... Sie roch die Krankheit auch in seinem Atem.

Lambi ließ sich vor ihr auf die Knie sinken. »Ehrwürdige Königin Emerelle. Du kommst in der Stunde der höchsten Not. Bitte hilf Kadlin. Ihre Tochter ringt mit dem Tod …« Er stockte. »Sie ist fast…«

»Bring mich zu ihr, Lambi. Ganz Albenmark steht in Kadlins Schuld. Ich werde das niemals vergessen und dem Fjordland immer wohlgesonnen sein.«

»Habt ihr das gehört! Alles wird gut. Los, hoch mit euren Ärschen, wir müssen zwei Königinnen zusammenführen.«

Die Männer schoben die Bänke, auf denen sie gesessen hatten, zur Seite und fegten die Binsen neben der Feuergrube fort. Ein eiserner Ring war in den Boden eingelassen. Der Mann, der gegen sie sein Schwert gezogen hatte, öffnete die Falltür.

»Wir mussten sie verstecken«, erklärte Lambi. »Ihr eigener Leibarzt hat ihr Haus in Brand gesetzt. Ich kenne Olav viele Jahre. Er muss vor Angst verrückt geworden sein.

In den letzten Tagen war er nicht mehr er selbst! Statt zu helfen, hat er die Leute nur in Angst und Schrecken versetzt. Als heute Mittag das erste Kind an der Pest starb, ist Panik ausgebrochen. Sie haben das Haus niedergebrannt, in dem das Kind verstarb. Und dann kamen sie hier herauf. Als ich das Feuer in der Stadt gesehen habe, habe ich Kadlin und Swana in das Versteck hier in der Königshalle gebracht. Dann kamen sie. Männer und Frauen, die noch vor ein paar Tagen auf dem Apfelfest mit ihr gefeiert hatten.« Der Alte schüttelte den Kopf. »Sie waren wie verrückt. Olav hat sie angeführt. Sie glaubten, sie habe sich noch immer in ihrem Haus eingeschlossen. Dann haben die Dreckschweine Fackeln auf das Dach geworfen. Als das Haus lichterloh brannte, haben sie es mit der Angst zu tun bekommen. Nur Olav blieb. Ich glaube, dieses Aasgesicht wartete auf die Todesschreie aus dem Haus. Ich hab ihn niedergemacht. Dann hatte keiner mehr Lust, zu bleiben. Sie sind fortgelaufen ... «

Lambi nahm eine Fackel. »Komm, du Göttergeschenk!«

Emerelle musste lächeln. Göttergeschenk war sie all den Jahrhunderten, die sie nun schon lebte, noch nie genannt worden.

Der Menschensohn führte sie eine kurze Treppe hinab in einen Tunnel, der so niedrig war, dass selbst sie halb geduckt gehen musste. Nach ein paar Schritt erreichten sie eine grob gezimmerte Tür. Sie war verzogen und öffnete sich nur widerwillig.

Dahinter lag eine Kammer, in der etliche Schinken aufgehängt waren. Fässer drängten sich an einer Wand. Auf Säcken waren Felle ausgebreitet worden. Ein junges weißhaariges Mädchen lag nackt hingestreckt. Ihr Leib war ausgezehrt. Emerelle sah die Wundmale an der Leiste und unter einer Achsel. Es stank nach Eiter und Schweiß in der kleinen Kammer.

Eine Frau mit zerzaustem roten Haar kauerte am Lager des Mädchens. Sie war völlig apathisch. Immerzu tupfte sie mit einem feuchten Tuch über den Leib des Kindes. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass jemand in die Kammer getreten war.

Emerelle ging zu ihr und legte ihr sanft eine Hand auf die Schulter. »Lass mich ihr helfen.«

Jetzt endlich blickte die Frau zu ihr auf. Erstes Grau schimmerte in ihrem Haar. Dunkle Ringe lagen unter ihren Augen, und in die Mundwinkel hatten sich tiefe Falten gegraben. Emerelle war erschüttert, zu sehen, wie schnell die Menschenkinder verfielen. »Kadlin?«

Die Frau starrte sie ungläubig an. Tränen rannen ihr über das Gesicht. Emerelle spürte, dass auch die Königin von der Pest befallen war.

»Du ... « Kadlin schüttelte den Kopf. »Du bist gekommen.« Sie ergriff den Saum von Emerelles Kleid und vergrub ihr Gesicht in dem weichen Leder. »Endlich. Luth, du hast mich erhört. Endlich ...«

Emerelle kniete sich neben das Lager. Vorsichtig legte sie eine Hand auf die Brust des Mädchens. Die Kleine war ganz kalt. Sie lag im Sterben. Die Seuche hatte sie all ihrer Kräfte beraubt. Ihr Herz schlug nur noch unregelmäßig und schwach.

Das Mädchen schlug die Augen auf und sah sie an. Sie hatte die Augen ihrer Mutter.

Ein leiser Seufzer kam über ihre blassen Lippen. Dann hörte ihr müdes Herz zu schlagen auf.

Die Loabo-Wurzel

Elodia faltete den Brief zusammen und legte ihn in die kleine Schachtel aus Holzspänen, die sie unter ihrem Bett verwahrte. Sie hatte ihn dreimal gelesen. Die Handschrift Balduins war fahrig geworden. Sie hatte nicht mehr dieselbe Kraft wie früher. Das Siegel des Königs war in das

dunkelrote Siegelwachs gedrückt. Auch wenn sie Ungeheuerliches verlangten, konnte es keinen Zweifel geben, dass es der Wille des Königs war. Eine Sache war bemerkenswert. Sie hatte das Gefühl, dass der Brief noch einmal geöffnet worden war, nachdem der König ihn gesiegelt hatte. Unter das Siegel war noch eine letzte Zeile hinzugefügt worden. Rette dein Leben.

Einen Augenblick erwog sie, das Schreiben der Oberin zu zeigen, doch dann verwarf sie es wieder. Es war nicht üblich, dass die Priesterinnen des Refugiums die Befehle des Königs mit der Oberin besprachen.

Es war der erste Brief, den sie seit der Nachricht vom Tod ihres Bruders erhalten hatte.