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Sie hatte gewagt, sich der Hoffnung hinzugeben, dass sie das Refugium nie mehr verlassen müsste.

Elodia schloss die Augen. Sie war müde. Manchmal fragte sie sich, ob es wohl eine Krankheit war. Seit sie aus den Wäldern Drusnas zurückgekehrt war, war sie immerzu erschöpft, ganz gleich, wie lange sie schlief. Es fiel ihr schwer, selbst die wenigen Aufgaben, die ihr im Refugium oblagen, gewissenhaft zu erledigen. Alles, was sie getan hatte, hatte sie für ihren Bruder getan. Seit seinem Tod war ihr Leben leer.

Manchmal fragte sie sich, ob es die Strafe Tjureds für ihre Bluttaten war, doch das konnte nicht sein. Sie hatte nur Heiden getötet! Aber dieser neue Auftrag ... Wenn sie ihn ausführte, wäre sie eine Verdammte, und wenn sie sich weigerte, dann war sie eine Verräterin. Sie hatte schon von dem weißen Ritter gehört. Wohl jeder in Fargon hatte von ihm gehört. Sie hatte den Fürsten Arsi getötet, aber Michel Sarti war der Held dieses Krieges. Sein Name war in aller Munde. Und es war ihr auch recht so. Sie war nicht stolz auf das, was sie getan hatte. Sie hatte einen Befehl des Königs ausgeführt und ihre Tat war zweifellos von Nutzen für Fargon gewesen. Aber dieser neue Mordbefehl ... Konnte es stimmen, dass sich der Ritter gegen König Cabezan verschworen hatte? Wenn sie an den alten Mann in seinem Bett zurückdachte, überkam sie stets Schrecken. Niemand sprach gut von ihm. Die Menschen fürchteten den König. Doch er war unzweifelhaft von Gott berührt.

Sein Leben nahm kein Ende, obwohl er immer wieder schwer erkrankte und es weit über die übliche Lebensspanne hinausreichte.

Balduin hatte den Brief verfasst, also musste der Tod des Ritters von Nutzen für das Königreich sein! Er war ein gütiger Mann. Auch er hatte ihr manchmal geschrieben. Sie würde ihm immer dafür dankbar sein, dass er sich die Mühe gemacht hatte, ihr einen langen Brief über den Tod ihres Bruders Jean und vor allem über sein Leben zu schreiben. Jean war glücklich gewesen. Er hatte sich gerade verliebt, als die Pest ihn und seine Geliebte dahinraffte. Er war ein geachteter Schreiber am Hof des Königs gewesen, und Balduin hatte keinen Zweifel, dass Jean sogar zum Statthalter aufgestiegen wäre, wenn er nur länger gelebt hätte.

Ihr waren Tränen in die Augen getreten. Sie würde es für Balduin tun und nicht für Cabezan. Sie erhob sich und verließ die kleine Hütte, die nahe der Mauer abseits der großen Gebäude des Refugiums stand. Sie würde die Hilfe von Schwester Anais benötigen, der Gärtnerin. Sie selbst kannte sich mit Giften nicht aus.

Pfützen standen auf den Gartenwegen. Am Morgen war schwerer Regen niedergegangen. Er hatte eine erste Vorahnung des Winters mitgebracht. Es war nasskalt. Der Himmel hing tief über den Bergen. Die weitläufigen Gärten, die von den Ordensschwestern angelegt worden waren, waren noch jung. Die neu gepflanzten Bäume hatten kaum armdicke Stämme. Wenn sie wuchsen und größer wurden, würde das Refugium ein wunderbarer Ort sein.

Sie ging vorbei an einer jungen Novizin, die einen Rosenbusch ausputzte. Das Mädchen war höchstens siebzehn. Sie war schön. Elodia lächelte melancholisch. Es waren nur die schönen Mädchen, die es hierher verschlug.

Sie nannten sich einen Orden und sprachen sich untereinander mit Schwester an. Doch die Kirche wusste nichts von dem, was im Refugium auf dem Möns Gabino geschah.

Und hätte sie es gewusst, hätte sie diesem Orden sicherlich nicht ihren Segen erteilt. Es machte das Ungeheuerliche, das hier geschah, erträglicher, wenn es nach festen Regeln verlief. Sie alle pflegten einen höflichen Umgang miteinander.

Elodia verharrte vor der schmalen, roten Holzbrücke, die über den schwarzen Pfuhl führte. Das dunkle Wasser war unbewegt. Elodia atmete schwer. Dies war der einzige Ort im Refugium, der ihr unheimlich war. In diesem Teich versenkten sie in versiegelten Tonkrügen die Leiber der ungeborenen Kinder. Kein Jahr verstrich, ohne dass eine der Novizinnen schwanger wurde. Ihre Ausbildung beruhte nur selten auf dem Studium von Büchern. Was sie im Dienste des Königs tun sollten, das übten sie in all seinen Spielarten hinter den hohen Mauern des Refugiums. Und so blieb es nicht aus, dass es zu Schwangerschaften kam. Doch der Möns Gabino war kein Ort für Kinder. Manche Schwestern verheimlichten es, doch zuletzt fiel es immer auf. Die Oberin selbst holte die Kinder. Aber es war stets die Aufgabe der Mütter, die schweren Tonkrüge im schwarzen Pfuhl zu versenken.

Elodia fasste sich ein Herz und ging raschen Schrittes über die Brücke. Wasser spritzte auf. Ein Karpfen hatte nach einer Fliege geschnappt. Sie wurden hier groß und fett.

Niemand aß einen Fisch aus diesem Teich.

Sie fand Schwester Anais bei den Oleanderbüschen. Die Gärtnerin schwenkte ein Räucherfass zwischen den Pflanzen und sang leise vor sich hin. Sie sah ihr eine Weile zu, bis Anais sie schließlich bemerkte.

»Elodia! Wie schön, dass du deine Hütte verlassen hast und einen Spaziergang machst.

Komm zu mir und atmeden Rauch. Sandelholzrauch belebt nicht nur die Pflanzen, er öffnet auch die Seele von uns Menschen. Magst du mir ein wenig bei meiner Gartenarbeit helfen?«

»Wenn ich ehrlich bin, Schwester Anais, dann bin ich gekommen, um dich um Hilfe zu bitten. Ich benötige deinen Rat in Bezug auf ein Gift. Es soll innerhalb von zwei oder drei Tagen tödlich sein. Es soll keine Schmerzen bereiten, die das Opfer ahnen lassen, dass es vergiftet wurde, und man soll dem Toten auch nicht ansehen können, dass er eines unnatürlichen Todes gestorben ist.«

Sie setzte ihr Räucherfass ab und begann mit Daumen und Zeigefinger ihre Nasenspitze zu massieren. Es war eine Eigenart von ihr, die ihr schon manchen Spott eingetragen hatte. Plötzlich verfinsterte sich ihre Miene. Als sie aufblickte, waren ihre Lippen schmale Striche geworden. »Das ist ein bisschen viel, was du verlangst.«

Elodia hatte Schwester Anais noch nie so übellaunig erlebt. »Gibt es so ein Gift nicht?«

»Oh, doch. Das gibt es. Aber ich habe es nicht vorrätig. Wir müssen dazu eine Loabo-Wurzel ziehen. Man muss sie bei Vollmond mit einem schwarzen Seidenschal aus dem Erdreich ziehen, sonst verliert sie ihre Macht. Es ist ein ganz besonderes Gift. Es greift die Adern im Gehirn an. Es zerfrisst sie, bis Blut ins Hirn sickert.«

»Und das ist ganz gewiss tödlich?«

»Das ist es. Es geht langsam. Manche bekommen Kopfschmerzen. Meistens ist es jedoch so, dass den Opfern schwindelig wird. Sie können nicht mehr klar sprechen oder vergessen einzelne Worte. Das Gift ist unbedingt tödlich! An den ersten beiden Tagen nachdem die Opfer es eingenommen haben, spüren sie gar nichts. Leider wächst nur eine einzige Loabo-Wurzel in meinem Garten«, sagte sie zerknirscht.

»Und? Kann man sie ernten?«

»Ja, gewiss. Bei Vollmond. Und dann müssen wir noch das Gift aus ihr extrahieren. Es wird ein wenig dauern.

Ich hatte gehofft, ich würde Ableger aus der Wurzel ziehen können.« Anais seufzte.

»Gehen wir nun zur Oberin. Ich fürchte, einen schwarzen Seidenschal haben wir auch nicht im Refugium. Und wenn ich schon meine einzige Loabo-Wurzel opfern soll, dann will ich auch alles richtig machen!«

Der freie Wille

Emerelle presste fest auf die Brust des Mädchens. Wieder. Und wieder. Das Herz regte sich. Sie spürte zögerliche, schwache Schläge. Mit geschlossenen Augen versuchte sie eins mit der Kleinen und ihrem Körper zu werden. Sie stimmte sich auf den stockenden, unregelmäßigen Herzschlag ein, senkte das Fieber und reinigte ihr Blut.

Sie gab dem Körper neue Kraft, um ein Wiederaufflackern der Krankheit unterdrücken zu können. Zuletzt heilte sie das zerstörte Gewebe der aufgeplatzten Eiterbeulen und ließ die Verletzungen verschwinden, ohne dass eine Narbe auf der Haut blieb.

Als sie die Augen wieder aufschlug, ergriff Kadlin ihre Hände. »Kannst du ihr helfen?«

»Sie wird leben. Nun sollte ich mich um dich kümmern.« Sie sah zu dem alten Krieger ohne Nase auf. »Und auch um dich. Ihr beide tragt die Krankheit schon in euch.«

Mit aller Aufmerksamkeit widmete sie sich den beiden. Bei dem Alten linderte sie auch die Beschwerden, die die beginnende Gicht ihm bereitete. Beide hatten sie mehrere Insektenstiche.