Bald waren sie inmitten der Wolken. Der Wind erstarb nie. Unablässig heulte er über Eis und Schnee. Je länger man ihm lauschte, desto mehr klang er wie ein Lied. Der Berg sang! Es war ein melancholisches Lied. Ohne Worte, vol er Gefühl.
Am Nachmittag mussten sie die Steigeisen anlegen. Der Felsgrat endete vor einem steilen Hang, der sich in Kaskaden schillernden Eises gekleidet hatte.
In der Steilwand kamen sie nur sehr langsam vorwärts. Melvyn schlug Griffe in das Eis. Manchmal kam er ihr wie eine Fliege vor, die an einer glatten Wand hinauflief. Sie kicherte. Die Kopfschmerzen waren verflogen und einem ausgesprochenen Hochgefühl gewichen. Nur ihre Finger brannten unangenehm. Manchmal klebten sie am Eis fest. Sie waren ganz rot geworden.
Immer wieder hielt sie inne, um tief zu atmen und auf den Wind zu lauschen. Der Berg sang ein Lied! Es war wirklich so. Sie konnte es nicht ganz richtig deuten. Aber es gab ihr die Kraft, gegen ihre Erschöpfung anzukämpfen.
Manchmal schoss feiner Pulverschnee an ihnen vorbei in die Tiefe. Einmal erwischte es Melvyn, und er war ganz und gar mit feinen Eiskristallen eingepudert. Sie blieben an seinen Augenbrauen haften und in seinem Haar. Auch in den Falten seiner Kleidung nisteten sie sich ein.
Das Ende der Eiswand blieb in den treibenden Wolken verborgen. Emerelle hatte jedes Zeitgefühl verloren. Als sie sich auf einem schmalen Sims niederließ, um kurz auszu-ruhen, bemerkte sie, dass sich ihre Hände verfärbt hatten. Die Fingerspitzen waren ganz dunkel geworden. Wulstige Beulen wucherten an den Nagelbetten. Die Hände brannten. Es war unangenehm, aber nicht schmerzhaft.
Sie lächelte. Nur langsam drang durch das Gefühl der Euphorie die Erkenntnis, dass ihre Zauber gegen die Kälte offensichtlich ihre Hände nicht mehr schützte. Sie tastete über ihr Gesicht. Deutlich spürte sie die Berührung der Finger auf den Wangen. Aber ihre Finger spürte sie nicht mehr.
Es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren. Sie blickte auf ihre Hände. Langsam hob sie sie und verschränkte sie über der Brust, dort, wo unter ihrem grauen Lederkleid der Albenstein lag.
Immer mehr Schnee rieselte an den Eiskaskaden vorüber.
Melvyn rief etwas zu ihr herunter, aber sie verstand kein einziges Wort. Der Berg schien einen Zauber um sie zu weben. Es fiel ihr immer schwerer, Entscheidungen zu treffen. Sie sollte zuerst ihre Hände heilen. Diesen Händen könnte sie bald nicht mehr trauen!
Sie versuchte sich zu konzentrieren. Jetzt spürte sie Schmerz in den Fingern. Er wich nur langsam.
Ein Pulverschneeguss verschlang die Welt. Der Schnee drang ihr in Mund und Nase.
Sie wollte aufstehen und schlug mit den Armen um sich. Der Abgrund! Ängstlich drückte sie sich an das Eis. Wie hatte sie aufstehen können! Der Berg lullte sie ein und versuchte sie zu töten. Das war es, was sie alle umgebracht hatte. Sie war in Gefahr. Sie war nicht wie Melvyn. Er schien das Lied des Berges nicht zu hören.
Heftig atmend konzentrierte sie sich auf ihre Hände. Sie durfte sich nicht so gehen lassen. Sie japste regelrecht nach Luft, und doch ging es ihr nicht besser. Ruhig! Der Berg würde sie nicht töten! Sie blinzelte den Schnee aus den Augen und sah nach oben.
Ihre Hände konnten warten! Sie musste nahe bei Melvyn bleiben. Nur da war sie in Sicherheit. Melvyn war gegen den Berg gefeit.
Sie tastete nach den Griffen, die er ins Eis geschlagen hatte. Ihre Finger waren taub.
Aber dann konnten sie auch keine Schmerzen spüren! Sie kletterte. Keine Eile. Wenn sie es zu hastig anging, würde sie Fehler machen. Sie blickte kurz über die Schulter.
Unter ihr lagen vom Wind zerzauste Wolkenschleier. Sie konnte zwischen ihnen hin-durchblicken. Wie tief ging es dort hinab? Ihr Weg durch die Eiswand hatte sie vom Grat fortgeführt, über den sie gekommen waren. Jetzt war da eine Steilwand, unter ihr.
Das Eis ging in dunkle Felsen über, immer tiefer und tiefer. Eine Meile? Oder mehr?
Der Abgrund schien sie anzuziehen. Es war verlockend, loszulassen ...
Erschrocken presste sie ihr Gesicht gegen das Eis. Sie durfte nicht mehr nach unten sehen. Nicht zurücksehen. Nicht weit über ihr war Melvyn.
Wieder stellte sie sich vor, wie sie einfach losließ und rückwärts in den Abgrund stürzte. Es wäre befreiend.
»Emerelle?«
Die Stimme brach den Bann. Sie kletterte. Langsam. Hand über Hand. Sie presste sich so fest an das Eis, wie sie nur konnte. Dann streckte sich ihr eine Hand entgegen. Sie griff zu und wurde über eine Felskante gezogen. Vor ihr lag ein weiteres Schotterfeld, durch das sich breite Schneebänke zogen. Der Hang dort stieg nur sanft an. Sie atmete aus. In Sicherheit!
»Du zitterst ja.«
Sie wollte etwas sagen, aber sie war zu durcheinander. Sie schämte sich. Ihr Zittern konnte sie nicht unter Kontrolle bringen. Sie richtete sich auf und wollte weiter vom Abgrund fort. Da traf sie die Böe. Wie der Hieb einer unsichtbaren Faust. Plötzlich und ohne jede Vorwarnung. Sie geriet aus dem Gleichgewicht. Strauchelte ...
Melvyn packte sie und zog sie vom Abgrund fort.
»Der Berg ist bösartig«, stieß er zwischen zusammengepressten Zähnen hervor und zerrte sie weiter. »Wir sollten umkehren, solange wir es noch können!«
Emerelle betrachtete das lächerlich kurze Seil, das Melvyn um seine Brust geschlungen trug. »Wie sollen wir damit zurück?«
Wieder fauchte eine Böe den Hang hinab. Diesmal hielten sie sich geduckt, und der eisige Gletscherwind vermochte ihnen nichts anzuhaben. »Wir werden uns jetzt anseilen«, sagte Melvyn bestimmend.
Emerelle blickte den Hang hinauf. Im Vergleich zur Eiswand würde das hier ein Spaziergang! »Warum?«
Der Maurawan sah sie überrascht an. Dann trat er fest auf das Geröll. Einige kleine Steine lösten sich und rollten dem Abgrund entgegen. »Vertrau dem Berg nie. Viele der Steine sind aneinandergefroren. Aber manche sind auch lose. Was glaubst du, was geschieht, wenn du hier zu rutschen beginnst. Und dann dieser Wind ... Eigentlich sollte hier viel mehr Schnee liegen. Die Böen fegen den Hang leer. Der Schnee bleibt nur liegen, wo vorspringende Felsen ihn vor dem Wind schützen. Vielleicht löst er sogar gelegentlich kleine Schotterlawinen aus. Wir sind hier auch nicht sicher.« Während er sprach, hatte er das Seil abgenommen und ihr um die Hüften gebunden. Gewissenhaft kontrollierte er den Knoten. Dann schlang er das andere Ende des Seils um seine Hüften.
»Los«, er tastete vorsichtig mit dem Stiel seines Eispickels über den Boden. Unendlich langsam bewegten sie sich schräg am Hang entlang.
Emerelle zählte leise. Vier Schritt. Halten. Tief atmen. Vier Schritt. Sie war wie in Trance. Sie versuchte, sich auf ihre Hände zu konzentrieren. Die Blasen bei den Fingernägeln kamen ihr größer vor.
Melvyn zog am Seil. Ohne es zu merken, war sie stehen geblieben. Sie musste seinen Rhythmus einhalten. Vier Schritt. Tief atmen. Vier Schritt.
Die Wolken über ihnen teilten sich. Finger gleißenden Sonnenlichts tasteten über den Geröllhang. Jetzt war es der Maurawan, der stehen blieb.
Ein Stück schräg unter ihnen lag eine Gestalt am Hang. Die Arme lang ausgestreckt, das Gesicht im Geröll vergraben. Der Wind hatte den größten Teil der Kleider vom Leib des Toten gezerrt. Seine Haut schimmerte hell, fast alabasterfarben. Um die Hüften, wo Seil und Gurtzeug saßen, hatten sich noch Kleiderreste erhalten. Viele Schichten übereinander. Die Beine waren wieder nackt. Ein Fuß steckte in einem schweren Schuh mit genagelter Sohle. Der andere Schuh war verschwunden.
»Wie lange er wohl schon hier liegt?« Emerelle hatte ihre Stimme zu einem Flüstern gesenkt. Selbst das Raunen des Windes war für einen Augenblick verstummt.
»Er hat noch gelebt, als sein Sturz dort endete«, murmelte Melvyn bedrückt.
»Vermutlich sind seine Beine gebrochen. Er hat versucht, sich den Hang hinaufzuziehen. Sein Seil ist zerrissen. Hier irgendwo ist sicher auch sein Gefährte. Er ist ... « Ein Böe trug die letzten Worte fort.