Ein Stück vor ihnen schoss klackernd ein faustgroßer Stein über den Hang. Er riss ein paar kleinere Geröllbrocken mit sich. Dann verschwand er im Abgrund. Emerelle stellte sich vor, wie es wäre, von einem solchen Stein am Kopf getroffen zu werden, während man in der Eiswand kletterte. Sie schluckte.
Die Wolkendecke hatte sich wieder geschlossen. Die Lichtfinger waren verblasst.
»Weiter!«, drängte Melvyn.
Sie ließen den Toten hinter sich zurück und verfielen wieder in den alten Rhythmus.
Vier Schritt. Tief Atmen. Vier Schritt.
Endlich brachte Melvyn sie zu einem Felsvorsprung, der Schutz gegen überraschenden Steinschlag bot. »Du musst dich um deine Hände kümmern«, drängte er.
Emerelle versuchte es. Vergeblich. Ihre Gedanken schweiften weiter. Sie konnte nicht bei einer Sache bleiben!
Endlich nahm Melvyn ihre Hände zwischen die seinen und rieb sie. Ein Prickeln floss durch ihre Finger, als würden ihr tausend Nadeln unter die Haut getrieben.
»Du bist ausgekühlt!«, sagte er vorwurfsvoll. »Warum schützt du dich nicht gegen die Kälte?«
Sie hatte vergessen, den Zauber aufrechtzuerhalten! Das war ihr noch nie geschehen.
Sie hatte schon schlimmen Schneestürmen in der Snaiwamark und Carandamon getrotzt. Sie hatte im ewigen Eis gekämpft und war gejagt worden. Sie gehörte zum Volk der Normirga. Elfen, die aus dem eisigen Norden stammten. Sich mit diesem Zauber zu schützen, war für sie so selbstverständlich wie zu atmen!
Sie fand keine Antwort, die sie Melvyn geben konnte.
Ihre Hände sahen wieder besser aus. Es war beschämend. Er war ein viel schlechterer Heiler als sie. Warum vermochte sie sich nicht mehr selbst zu helfen? Warum ... Sie verlor den Gedanken und lauschte wieder auf das Lied des Windes.
»Emerelle!«
Der Maurawan schüttelte sie. Benommen blinzelte sie. Sie war eingeschlafen!
Er nahm sie bei den Armen und hob sie sich auf die Schultern. »Bleib wach! Du hattest Recht. Weiter oben habe ich etwas Seltsames entdeckt. Jemand ist hier auf dem Gipfel.
Oder zumindest war jemand hier. Du musst wach bleiben. Du bist völlig ausgekühlt.
Nicht einschlafen! Oben können wir ein Feuer machen.«
Ein Feuer, inmitten einer Einöde aus Fels und Schnee, dachte sie verwundert. Dann fielen ihr wieder die Augen zu.
Die Dreizehn
Sie waren alle fort. Alle, die wussten, dass der hohe Stapel Kisten am Kai mehr als nur ein Stapel Kisten war. Er hatte seinen Einfluss als Kommandant genutzt, um sie in die fernsten Winkel Albenmarks zu versetzen. Alle hatten sich verbessert. Sie würden Vahan Calyd nicht nachtrauern. Für seinen Geschmack waren zu viele in Teile von Elijas Plänen eingeweiht. Nur die Kommandanten kannten den großen Zusammenhang. Aber das waren mehr als zwanzig. Und es würde noch sieben verdammte Tage bis zur Königswahl dauern. Es war ein Wunder, dass bis jetzt noch nichts herausgekommen war. Skanga war von Natur aus misstrauisch! Sie hatte ihm einen Shi-Handan auf den Hals gehetzt, weil er einen Mordanschlag auf Emerelle für undurchführbar gehalten hatte. Madrog lächelte. Wie es schien, hatte er Recht behalten. Die frühere Königin lebte noch immer. Und dass sie wahnsinnig geworden war, konnte er sich nicht wirklich vorstellen. Nicht Emerelle.
Sie hatte ungezählte Jahrhunderte geherrscht. Sie besaß einen Albenstein. Sie hatte die Angriffe der Shi-Handan überlebt. Es würde ihn nicht wundern, wenn sie zur Kö-
nigswahl erschien.
Er hatte ebenfalls überlebt. Auch wenn die Shi-Handan ihn wohl nicht sehr lange verfolgt hatten. Madrog kletterte im Inneren der Kisten hinauf. Ein schmaler Hohlraum mit einer Leiter führte bis hinauf zur obersten. Sie war groß. Groß genug, ein Torsionsgeschütz aufzunehmen. Das Beste aus der Reihe, die man nach Vahan Calyd gebracht hatte. Seine dreizehn. Er hatte das Übungsschießen draußen auf dem Waldmeer befehligt. Das dreizehnte Geschütz hatte die beste Trefferquote erzielt, und das bei fünf verschiedenen Geschützmannschaften. Natürlich spielte es eine Rolle, wer ein Geschütz abfeuerte. Er hatte sich schon selbst an der Dreizehn versucht. Er wusste, sie würde ihn nicht enttäuschen. Er kniete nieder, um noch einmal die fünf Steinkugeln zu überprüfen, die neben dem Geschütz bereitlagen. Er nahm die hölzerne Schablone und drückte sie durch das runde Loch, das dort hineingeschnitten war. Dabei drehte er sie vorsichtig. Die Kugeln waren alle vollkommen rund. Das war selten bei den Steinkugeln für Torsionsgeschütze. Und was noch viel seltener war, sie alle hatten dasselbe Gewicht. Ein guter Schütze würde mit ihnen fünfmal hintereinander dasselbe Schussergebnis erzielen können.
Er klappte das Brett vor der Schiene des Torsionsgeschützes zur Seite. Seine Hand strich darüber. Sie war leicht geölt. Dann spähte er hinaus auf den Hafen. Die Prunkbarkasse, auf der die Königswahl stattfinden würde, lag bereits fest vertäut.
Auch die Schiffe in der unmittelbaren Nähe. Sie würden nichts dem Zufall überlassen.
Madrog selbst hatte die Mannschaften der zwölf anderen Geschütze ausgewählt. Und die Krieger, die die Geschütze abschirmen würden. Die meisten waren Spinnenmänner. Man konnte sich auf sie alle verlassen. Selbst wenn Elijas Intrigen fehlschlugen, würden sie dafür sorgen, dass der Putsch gegen die Trolle ein Erfolg wurde. Und das, noch bevor Nikodemus das vereinbarte Zeichen geben konnte, auf das die Heerscharen der Rotmützen losschlagen sollten. Sechstausend Krieger hierherbringen zu wollen ...
Immer wieder hatte er versucht, ihnen das auszureden. Das würde niemals geheim bleiben!
Und dann noch Nikodemus mit dem Oberbefehl zu betrauen. Er traute ihm nicht. Er war zu lange fort gewesen. Wer konnte schon überprüfen, ob die Geschichte, die er über Emerelle erzählte, auch stimmte. Wenn es nach ihm ginge, dachte Madrog, dann würde er den Lutin noch einmal für ein paar Stunden an Skanga und Birga ausleihen.
Sosehr er die beiden Trollvetteln auch hasste, musste er ihnen doch zugestehen, dass sie überaus fähig darin waren, der Wahrheit nachzuspüren. Elija hatte seinen Bruder zu früh bei ihnen weggeholt.
Der Mond stand tief über dem Hafen. Obwohl der Frühling gerade erst begonnen hatte, wurde es unangenehm heiß. Er mochte Vahan Calyd nicht. Jeden Tag gab es schwere Regenfälle. Das Fest der Lichter würde darunter leiden. Die meisten Gäste waren gezwungen, im Freien zu nächtigen. Es war nicht die richtige Jahreszeit für die Feier.
Er peilte die Laternen an, die er hatte aufhängen lassen. Im Heck der Krönungsbarkasse hatte er eine Wassermelone auf die Reling gebunden. Angestrengt spähte er in die Dunkelheit, um ihre Umrisse zu entdecken. Jetzt war niemand auf dem Schiff. Und kaum jemand hielt sich im Hafen auf.
Sein Geschütz im Kistenstapel stand hoch genug, dass er über die Feiernden hinwegschießen könnte, die in sieben Tagen zur Dämmerung die Kais bevölkern würden. Madrog peilte den Lastkahn mit dem bunt geringelten Mast an. Er lag nahe bei einem Ladekran, der auf bunt bemalten Stelzen stand. Gestern erst war der Kran gestrichen worden. Aus dem Zusammenspiel der Mastringe und der bemalten Stelzen konnte er ablesen, wie hoch das Wasser im Hafenbecken stand. Der Tidenhub konnte einen Unterschied von bis zu zwei Schritt ausmachen. Einem Schützen, der einfach nur ein Ziel anpeilte, mochte so etwas egal sein. Seine Spinnenmänner waren anders! Sie überließen nichts dem Zufall.
Seit Wochen hatte er mit ihnen daran gearbeitet, überall im Hafen Masten und Zelt-stangen aufzustellen. Sie alle trugen Zeichen. Mal ein auffällig helles Seil. Mal ein breites, weiß aufgemaltes Kreuz. Wer sie richtig zu deuten verstand, für den verwandelte sich der Hafen rings um die Prunkbarkasse in ein Raster. Und dieses Raster diente dazu, Entfernungen und Höhen bis auf zwei Fingerbreit genau abzuschätzen. Ein guter Schuss war eben kein Zufall!
Madrog sah, dass das Wasser im Hafen drei Ellen unter dem höchsten Flutstand lag.
Die Entfernung zur Melone auf der Reling betrug etwa hundertsiebzehn Schritt, eine Elle und fünf Finger. Der Kobold korrigierte den Neigungswinkel des Torsionsgeschützes leicht. Dann peilte er über den Lauf der Schiene. Das Geschoss würde nach einhundertacht Schritt von einer geraden in eine leicht geneigte Schussbahn übergehen. Noch einmal korrigierte er die Höheneinstel ung. Jetzt konnte er eben noch den oberen Rand der Melone sehen, wenn er über die Schiene peilte.