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Er wählte eine der fünf Steinkugeln und legte sie auf das Geschütz. Dann drehte er bedächtig die Spannkurbel. Er mochte das leise metallische Klicken. Nach der sieb-zehnten Umdrehung hörte er auf. Er zog den Sicherungshebel zurück. Die Steinkugel schnellte davon. Neugierig beugte er sich über die Schiene und peilte sein Ziel an. Die Wassermelone war verschwunden. Sehr gut!

Es war erstaunlich, wie ähnlich sich Wassermelonen und Köpfe verhielten, wenn sie von einer zwei Pfund schweren Steinkugel getroffen wurden. Jetzt war er beruhigt.

Ganz gleich, wie die Königswahl auch verlaufen mochte, er hatte nun die Möglichkeit, sie in seinem Sinne enden zu lassen.

Der blaue Stern

Emerelle erwachte und hatte das Gefühl, dass etwas Schweres auf ihrer Brust hockte.

Sie rang um Atem. Sie spürte, wie sich ihre Lungen weiteten. Doch die Atemnot wurde nicht besser. Sie fühlte sich schwach, und ihr war schwindelig, obwohl sie lag. Neben ihr brannte ein kleines Feuer. Der Rauch stieg in einer blassgrauen Säule dem Himmel entgegen. Es war vollkommen windstil . Über ihr zogen dunkle Wolken hinweg.

Manchmal konnte man die fahle Sonnenscheibe hindurchschimmern sehen.

Obwohl sie so nahe beim Feuer lag, war ihr immer noch kalt. Sie streckte sich und bemerkte, dass sie in etwas eingehüllt war. Feines blaues Leinen mit einer Schmuckborte. Wo war sie? Auf dem Gipfel. Neben ihr ragte ein Holzgebilde auf, das entfernt an einen zersplitterten Schiffsrumpf erinnerte.

Es lag sehr wenig Schnee zwischen den Felsen. Aber dicht neben dem Feuer schillerte zersplittertes Glas. Sie stemmte sich hoch. Die Bewegung kostete sie all ihre Kraft. Sie hechelte wie ein Hund nach einer wilden Jagd. Emerelle versuchte ihre Zaubermacht zu sammeln, aber sie konnte ihren Gedanken keine klare Richtung geben.

Melvyn erschien. Er wirkte gehetzt. Sein Blick war unstet. Als er sich neben sie hockte, achtete er auffällig darauf, einen schützenden Felsen im Rücken zu haben.

»Wir sollten gehen«, raunte er ihr zu.

»Die Alben ... Sind sie hier? Ich muss ... «

»Ich habe sie nicht gesehen ... «

Da war etwas Zögerliches in seiner Stimme. Etwas, das den Worten eine verschobene Bedeutung gab. Die blasse Sonnenscheibe strahlte tief am Horizont. Zu tief! Sie hatte eben doch noch viel höher am Himmel gestanden!

»Was ist?«

»Hier ist alles ... « Er rang um das passende Wort. »Es ist ... fremd. Ich konnte niemanden finden, aber ich fühle mich ständig beobachtet. Und sieh dir den Himmel an! Jetzt ist es Nacht! Die Zeit verläuft hier schneller. Oder unser Leben verrinnt schneller. Und du bist so geschwächt. Ganz ohne Kraft. Selbst der Albenstein vermag dir nicht zu helfen. Lass uns gehen, sobald die Sonne wieder am Himmel steht. Lass uns flüchten, solange wir es noch können!«

»Ich muss ihn finden ... «

»Du verstehst nicht. Unser Wille ist hier oben ohne Bedeutung. Du bist hier wie eine Schneeflocke im Sturmwind. Hier ist es nicht mehr unsere Entscheidung, wohin unser Weg führt. Nichts, was wir für gegeben halten, hat hier noch Bestand. Blick zum Himmel hinauf! Die Sterne wandern schneller, als sie es sollten. Wenn man zwischen den Felsen herumirrt, hat man das Gefühl, dass man bestimmte Orte auf dem Gipfel nicht erreichen kann. Man geht darauf zu, und plötzlich ist man an einer anderen Stelle. Man blickt sich um, und der Platz, zu dem man wollte, liegt auf einmal hinter einem, ohne dass man daran vorbeigegangen wäre!«

Jedes seiner Worte bestärkte Emerelle in ihrer Überzeugung, dass die Alben hier sein mussten. Ebenso wie der seltsame hölzerne Rumpf, der nicht weit entfernt zwischen den Felsen lag. »Ist es ein Schiff, das hier auf dem Berg liegt?«

Melvyn rückte ein wenig näher zu ihr. »Nein«, flüsterte der Elf. »Erst dachte ich das auch, wobei es schon seltsam genug wäre, ein Schiff am Gipfel eines Bergs vorzufinden. Aber es ist etwas anderes ... Es hat zu viele Masten. Das war das Erste, was mir aufgefallen ist.« Seine Stimme lag jetzt zwischen Verzweiflung und Entsetzen.

»Viel zu viele Masten! Sie standen nicht nur auf dem Deck. Sie müssen auch seitlich aus dem Rumpf gewachsen sein und sogar unten im Kiel gab es Masten. Und auf dem Rumpf scheinen große Halbkugeln aus Glas gesessen zu haben.«

Emerelle schloss die Augen. Bilder aus längst vergangener Zeit stiegen aus ihrer Erinnerung auf. Bilder ihrer Kindheit und Jugend. Und ein Name. Blauer Stern hatten sie es genannt. Das Schiff des Sängers. Es hatte blaue Segel getragen. Sein Schiff war durch die Lüfte gefahren. Bunte Glaskuppeln schimmerten im Sonnenlicht, wenn es über den Himmel glitt. Als Kind hatte sie sich gewünscht, einmal an Bord dieses Schiffes zu sein, wenn es mit einer Eskorte aus Drachen über den Himmel zog.

Sie dachte an die wenigen Gelegenheiten, bei denen sie die Alben von fern gesehen hatte. Sie waren so unnahbar gewesen. Sie sprachen auch nicht mit ihren Kindern. Es hatte geheißen, sie sahen einen einfach nur an, und man wusste mit aller Klarheit, was sie wollten. Es war ein Verstehen jenseits von Worten, die Gedanken stets verfälschten, weil sie ein unvollkommenes Mittel waren, sie auszudrücken.

Die Alben hatten ihnen auch nie ihre Namen genannt. Emerel e kannte Märchen, in denen es hieß, wer den wahren Namen eines Alben erfahre, der werde Macht über ihn gewinnen. Alle Namen, die man ihnen gegeben hatte, hatten ihre Kinder ersonnen. So wie den Namen des Schiffes, Blauer Stern. Oder den Namen jenes Alben, der darauf über den Himmel reiste. Der Sänger.

»Kannst du mich tragen, Melvyn?«

Ihr Gefährte sah sie verzweifelt an. »Ja«, sagte er schließlich. »Aber es gibt hier nichts zu finden.«

»Weck mich, wenn die Sonne aufgeht.« Sie schloss die Augen. Bald war sie in einem seltsamen Traum gefangen. Da war ein Kind. Es streckte die Hand nach ihr aus.

»Emerelle!« Widerwillig blinzelte sie. Helles Licht brannte. Das Feuer war verloschen.

Melvyn ragte vor ihr auf. Die Sonne stand wieder hoch am Himmel. Dabei hatte sie das Gefühl, dass sie gerade erst eingeschlafen war.

Der Maurawan hob sie auf die Arme wie ein Kind. »Du hast unruhig geschlafen.«

Sie sah sich um. Alles erschien ihr in überdeutlicher Klarheit. Der Himmel war wolkenlos und der Berggipfel in goldenes Licht getaucht.

Melvyn trug sie in weitem Bogen um einen gebrochenen Mast. Feine Seidentaue schlängelten sich zwischen Felsen. Zerknülltes Segeltuch bildete blaue Nester.

Sie umrundeten einen Felsen, der wie ein mächtiger, steinerner Dorn in den Himmel stieß. Jetzt konnte man den Rumpf besser sehen, die verschlungenen goldenen Linien, das Schnitzwerk.

Zersplittertes Glas knirschte unter Melvyns Schritten. Der Rumpf war fast auf ganzer Länge aufgerissen. Als sei er mit großer Geschwindigkeit auf ein Kliff aufgelaufen und dann auf den Berggipfel geschleudert worden.

Es hatte geheißen, der Sänger sei der Älteste der Alben. Ihr Anführer. Emerelle dachte an den Orakelspruch, den Samur ihr unter die Haut gestochen hatte. Auf dem Albenhaupt ruht der Alben Haupt. Falrach hatte das verdrehte Orakelprosa genannt. Aber vielleicht war er ganz wörtlich zu nehmen. Vielleicht schlief der Sänger dort in seinem gestrandeten Schiff.

»Spürst du das?« Melvyn flüsterte wieder.

»Was?«

»Jemand beobachtet uns?« »Von wo?«

»Leise«, zischte der Maurawan. »Ich kann es nicht genau sagen. Aber er ist da. Ich spüre es genau.«

Emerelle sah sich um. Niemand war zu entdecken. Und sie spürte auch nichts. Es war seine Angst, die Melvyn zusetzte. Oder hatte er doch Recht? Sie sah sich erneut um.

Der Gipfel war zerklüftet. Überall lagen Schiffstrümmer. Jemand schien Möbel aus dem Rumpf herausgetragen zu haben. Teilweise waren sie mit Segelfetzen verhüllt. Es wäre leicht, sich hier zu verstecken. Aber warum sollte der Sänger das tun? Er hatte doch nichts von ihnen zu befürchten!