Emerelle fühlte sich klein und verloren auf dem weiten Schneefeld. Hatte der Berg sie Demut lehren wollen?
Melvyn kam mit ihrem Fluggeschirr. Seines hatte er schon angelegt. Er sah ein wenig lächerlich aus mit dem lederbezogenen Oval über seinem Kopf. »Bist du bereit?«
Sie nickte. Er half ihr ins Gurtzeug und begann sie zu verschnüren. »Wohin wirst du gehen, Melvyn?«
Er blickte zu ihr auf und lächelte. »Zu Conlyn und Leylin. Zu meiner Familie. Ich habe Leylin nicht gesagt, wohin wir reisen werden, und ich habe Kadlin verboten, darüber auch nur ein einziges Wort zu verlieren. Weißt du, Leylin wirkt so ruhig und freundlich, aber manchmal kann sie sehr bestimmend sein. Sie hätte mich nicht ziehen lassen, wenn sie gewusst hätte ...« Er zog seinen Gurt so straff, dass es schmerzte.
»Und du? Bist du sehr enttäuscht?«
Sie beneidete ihn um seine Familie. Das war ein Leben, das sie nie kennengelernt hatte.
Ihr Vater war schon tot gewesen, als sie geboren wurde.
»Ich muss noch einmal zum Felsen zurück.« Sie merkte, dass Melvyn die Verzögerung missfiel, aber sie musste es wissen. Sie ging zu der tiefen Spalte, die sie vor der Lawine bewahrt hatte. Zu dem Grab des namenlosen Elfen, der mit gefrorenen Lidern bis in alle Ewigkeit auf das Schneefeld hinabblicken würde. Unter seinem linken Fuß lag ein schmales schwarzes Büchlein. Sie war sich nicht ganz sicher, ob es schon dort gewesen war, als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatten. Sie glaubte es nicht.
Emerelle kniete nieder. Das Oval ihres Fluggeschirrs schlug gegen die Felsen. Sie streckte sich, bis sie mit den Fingerspitzen das Büchlein berühren konnte. Es war wirklich da! Keine Illusion. Sie müsste es nur nehmen. Dann würde das Kind mit dem goldenen Haar in ihr Leben treten.
Ihr Kind. Und Ollowains. Wenn er das Buch las, würde er zurückkommen, und sie würde sein Herz gewinnen. Sie musste nur das Buch nehmen und es zu ihm bringen.
Der Sänger hatte ihr also doch Antwort auf ihre Fragen gegeben. Auf seine Art.
»Wir müssen hier fort«, rief Melvyn. »Wir sollten den Berg nicht noch einmal herausfordern. Bitte lass uns gehen!«
Emerelle strich mit den Fingerspitzen über das Buch. Sie dachte an das Kind. Nur vier Krönungsfeste würde es noch geben, wenn sie es nahm. Mehr als hundert Jahre ...
»Bitte, Emerelle! Die Adler werden unruhig. Sie wollen fort!«
Sie richtete sich auf. Ein letztes Mal blickte sie auf das Buch. Sie war sich sicher, es würde nicht mehr hier sein, wenn sie später noch einmal zurückkehrte.
Die Adler weiteten ihre Schwingen. Sie stießen sich vom Schneefeld ab und glitten dem Tal entgegen. Dann machten sie eine Kehre und kamen mit kräftigen Flügelschlägen zurück. Emerelle konnte sehen, wie sie von böigen Winden hin und her geworfen worden. Sie lief zu Melvyn. Er kontrollierte noch einmal ihr Gurtzeug. »Was hast du da gemacht?«
»Abschied von meiner Familie genommen.«
Er sah sie scharf an. Er konnte es nicht verstehen. »Ich muss nach Vahan Calyd«, sagte sie.
Vorahnung
Jules drehte sich von den Säcken und setzte die Füße auf den Boden. Er war mit Mehlstaub bepudert. Er hatte es noch nie in einer Mühle getan. Er sah an sich hinab. Er sah aus wie ein Geist.
Die Blonde schlief noch. Es war Zeit, zu gehen. Er hatte Spaß gehabt. Es war gut, kein Pferd mehr zu sein! Er würde zur nächsten Schenke ziehen. Er brauchte Bier. Er würde noch sehr viel Bier brauchen, um Stroh, Hafer und das brackige Wasser aus den Tränken zu vergessen. Auch als Pferd hatte er sich gelegentlich kurze Ausflüge gegönnt, aber es waren immer nur gestohlene Stunden gewesen.
Er trat vor die Tür und blickte zum Himmel hinauf. Ein schmaler Sichelmond leuchtete zwischen den Wolken. Warum war er schon wach? Er hatte kaum geschlafen.
Er rieb sich über die stoppeligen Wangen und dachte an den Jungen. Wo Adrien wohl gerade steckte? In den letzten Monden hatte sich der Junge gut gemacht. Er sollte ihn alleinlassen, verdammt nochmal, er war doch nicht dessen Amme. Adrien steckte in einer Rüstung, die ihn fast unverwundbar machte. Und seit er nicht mehr dem Mädchen nachjagte, machte er auch deutlich weniger Unsinn.
Jules streckte sich und rülpste. Er hatte am Abend zu viel gegessen. Er blickte wieder zu der schlafenden Müllerin. Sie wäre es wert gewesen, ein paar Tage zu bleiben. Es war nett mit ihr. Sie hatte einen sehr schrägen Humor und war begeistert, einen Tjuredpriester in ihrem Bett oder auf ihren Mehlsäcken liegen zu haben.
Wieder blickte er zum Mond hinauf. Etwas war mit dem Jungen nicht in Ordnung. Er spürte es. Seine Vorahnungen hatten sich immer als richtig erwiesen. Deshalb lebte er noch, während alle anderen Devanthar tot waren.
Vernünftig war es nicht, zu gehen ... Er sollte sich dem Jungen auch nicht zu erkennen geben. Wenn alles in Ordnung war, könnte er sich wieder zurückziehen. Wo Adrien wohl steckte? War er etwa zu Cabezan gegangen? Zwei Jahre lang hatte er sich davor gedrückt, dem König gegenüberzutreten. Nachdem er in Drusna die Spur seiner Elodia verloren hatte, wäre genug Zeit gewesen, sich dem König zu widmen. War er die Sache ausgerechnet jetzt angegangen? Cabezan würde ihm Schwierigkeiten machen.
Jules stellte sich vor, wie sich der Junge nach der Strafpredigt, die er ihm zum Abschied gehalten hatte, ein Pferd besorgt hatte und geradewegs zu Cabezans Palast geritten war. Zuzutrauen war ihm das. Ohne Plan einfach dort hineingehen. Da waren nie weniger als fünfzig Leibwachen. Alles handverlesene Kämpfer. Genügend, um den Jungen niederzuringen. Wenn Adrien in Schwierigkeiten geriet, dann würde es in Cabezans Palast sein.
Jules blickte ein letztes Mal zur Müllerin. Nur ein paar Tage, dann wäre er wieder zurück. Nur ein paar Tage! Wahrscheinlich bildete er sich alles nur ein, und Adrien stand auf irgendeinem Marktplatz, ließ sich bewundern und predigte. Das machte er zugegebenermaßen gut.
Wahrscheinlich rührte sein ungutes Gefühl nur von dem zu üppigen Abendessen.
Er zog sein blaues Priestergewand über und ging die schlammige Straße entlang, die zur Brücke am Ende des Dorfes führte. Der nächste Albenstern war ein gutes Stück Weges entfernt. Und es gab auch keinen Stern in der Nähe von Cabezans Palast. Er würde eine ganze Weile brauchen, bis er dort war. Vielleicht zwei Tage ... Vielleicht ein wenig länger. Sicher hatte er nur zu viel gegessen. Er war zu lange mit Adrien zusammen gewesen. Er war nur ein Mensch, er sollte nicht dauernd an den Jungen denken. Er würde ohnehin sterben. Es war besser, keinen von ihnen so sehr kennenzulernen. Sie starben einfach zu schnell, wohingegen er alterslos durch die Jahrhunderte wanderte.
Was für einen Unsinn er doch dachte! Durch die Jahrhunderte wandern! In diesem Augenblick ging er barfuß auf einer verschlammten Landstraße. Und es war ziemlich kalt. Er grinste. Die Menschen würden ihn dafür bewundern. Sie hatten ja keine Ahnung, wie leicht es war, sich mit einem Wort der Macht gegen die Kälte zu wappnen. Für sie war er ein asketischer Wanderpriester.
Hoffentlich hatte sich der Junge nicht in Schwierigkei ten gebracht. Jules beschleunigte seine Schritte. Er könnte sich in ein Pferd verwandeln, um schneller voranzukommen. Adrien durfte kein unwürdiges Ende nehmen! Dann wären all die Jahre der Arbeit vergebens gewesen. Er mahnte sich zur Ruhe. Bestimmt lag der Junge jetzt in irgendeiner Schänke und schlief! Und er machte sich völlig unnötig Sorgen.
Er beschleunigte noch einmal seine Schritte. Es konnte ja nicht schaden, sehr frühzeitig zu sehen, dass alles in Ordnung war. Sobald er die Brücke überquert hatte, würde er sich in ein Pferd verwandeln. Dort würde ihn niemand mehr sehen.