Das war der Plan, dachte er etwas ruhiger. Er würde einfach in den Palast spazieren.
Und wenn er erst einmal vor dem König stand, dann wäre es zu spät, ihn noch aufzuhalten. Einfache Pläne waren immer die besten!
Er dachte wieder an Elodia. An die vergangenen beiden Tage. Er grinste. Er war zum Mann geworden. Sie hatte ihm immer wieder erzählen wollen, was mit ihr geschehen war. Er hatte ihr geduldig zugehört. Aber ganz gleich, was sie sagte, nichts konnte sein Bild von ihr zerstören. Er hatte es gewusst, als sie hinter dem Stall niedergekniet war, um ihm zu beichten. Er würde ihr alles verzeihen, nur um sie in seinen Armen zu halten. Er war halt ein Narr. Vielleicht lag es auch an dem Gift, dass er nicht mehr klar denken konnte. Oder war es das süße Gift der Liebe, wie manche Dichter es nannten?
Hätte ihre Liebe nur schon früher Erfüllung gefunden! Das war das Einzige, was er bereute!
Der Palast war ein großes, mit Säulen geschmücktes Haus aus feinem Marmor. Das Dach war ursprünglich einmal aus orangeroten Ziegeln gefügt gewesen, doch jetzt hatte es viele Farben. Immer wieder war es geflickt worden. Der Mauer mit dem Wehrgang und den kleinen gedrungenen Türmen sah man ebenfalls deutlich an, dass sie nicht zum ursprünglichen Gebäude gehörte. An der Westseite des großen Hauses drängten sich viele Menschen. Sie standen direkt bei der Mauer. Das letzte Abendlicht brach sich auf Helmen und Speeren, aber es waren nicht nur Krieger dort.
Adrien musste blinzeln. Seine Augen spielten ihm schon wieder einen Streich. Es war, als sähe er zwei Bilder, die sich zum Teil überlagerten, aber nicht genau zusammen-passten.
Er nahm seinen Helm vom Sattel und setzte ihn auf. Er hatte Sorge, dass man ihm schon ansehen konnte, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Er dachte daran, was Elodia über sein Lächeln gesagt hatte.
Es fiel ihm schwer, den Helm zu verschließen. Die Fingerspitzen seiner rechten Hand waren gefühllos. Das Gift schien schneller zu wirken, als Elodia gesagt hatte. Er drehte sich im Sattel um. Er glaubte, sie vor der Hütte zu sehen. Aber sicher war er sich nicht.
Die Reihen der Rebstöcke verschoben sich gegeneinander.
Er presste fest die Augen zusammen und ließ die Zügel locker. Sein Pferd würde den Weg schon finden. Müde lauschte er auf den Hufschlag. Zum ersten Mal überkam ihn Angst. Jäh wie ein plötzlicher Wolkenbruch. Er wollte noch nicht sterben! Nicht jetzt, wo er sein Glück gefunden hatte!
»Seid ihr Michel Sarti?«
Er öffnete die Augen. Helle Lichtpunkte tanzten vor ihm. Undeutlich sah er einen Wachposten mit einem Speer. Er hatte den Palast erreicht. »Ja«, brachte er mit Mühen hervor. Er hatte nach dem Wort suchen müssen. Nach so einem einfachen Wort!
Der Krieger ließ ihn passieren. Es war ein junger Mann. Adrien glaubte ihn etwas vom Zorn Tjureds murmeln zu hören, aber er war sich nicht sicher. Er ritt auf den weiten Hof und ließ sich aus dem Sattel gleiten.
Ein Krieger kam auf ihn zugelaufen. Das Gesicht kam ihm bekannt vor. Er blinzelte. Ja, er hatte den Kerl schon mal gesehen ... Aber sein Gedächtnis versagte. Er sollte den Namen wissen.
Der Krieger hatte graue Locken. Sein Gesicht war glatt rasiert. Er trug einen polierten Schuppenpanzer, der rötlich im Abendlicht schimmerte. Ein Umhang mit goldener Schließe verriet, dass er wohl von Adel war.
»Der Hauptmann ... « Wie nannte man dieses Haus des Königs auch gleich? Das Wort war Adrien entfallen. Der Kerl musste der Hauptmann vom Königshaus sein.
Sein Gegenüber lächelte. »Ja, ich sehe, Ihr erinnert Euch. Ich bin Raoul Deleau.
Hauptmann der Stadtwache von Nantour. Wir sind uns schon einmal begegnet.«
Jetzt sah er den Tag wieder klar vor sich. »Ihr habt mich freundlich plaudernd aus der Stadt geleitet, weil Ihr befürchtet habt, ich könnte Ärger machen.« Er hatte ein Gefühl, als habe sich etwas in seinem Kopf bewegt. Der Druck und der Schmerz hatten plötzlich nachgelassen.
»Ihr seid ein berühmter Mann geworden.«
»Und Ihr seid der Hauptmann der königlich ... « Nein, das Wort für das Königshaus war immer noch aus seinem Gedächtnis gelöscht. » ... der königlichen Haustruppe.«
»Ein zweifelhafte Ehre.« Plötzlich wirkte der alte Krieger angespannt.
»Und? Werdet Ihr mich nun freundlich plaudernd durch das Tor geleiten, damit ich keinen Ärger mache?«
»Seid Ihr denn hier, um Ärger zu machen?« Der Hauptmann sah ihn durchdringend an. Etwas erschien Adrien seltsam an diesem Blick.
»Wenn ich Euch darauf eine ehrliche Antwort gäbe, müssten wir wohl beide die Schwerter ziehen.«
»Dann würde ich vorschlagen, wir reden über etwas Unverfänglicheres. Vielleicht das Wetter? Ein wunderbarer Tag für den Spätherbst, nicht wahr?«
Adrien traute seinen Ohren nicht. War das eine Falle? Oder spielte ihm das Gift einen Streich? Das konnte der Hauptmann nicht wirklich gesagt haben!
Die Krieger und Höflinge an der Hauswand waren auseinandergetreten. Alle starrten ihn an. Plötzlich kniete eine Frau nieder und erhob die Hände zum Gebet. Etliche andere taten es ihr gleich. Sogar einige der Wachen!
Ein blauer Umhang lag auf dem Boden ausgebreitet. Darunter lugte ein Paar Stiefel hervor.
»Werdet Ihr Euren Schild brauchen, mein Freund?«
»Vielleicht...«, antwortete Adrien vorsichtig. Der Hauptmann musste doch ahnen, was er im Sinn hatte.
Raoul reichte ihm den großen Rundschild mit dem Wappen des Aschenbaums. Er war schwer! Adrien schob den Arm durch den Schildriemen. Seine Hand schloss sich um den hölzernen Griff. »Was geht hier vor sich?«
Der Hauptmann deutete in Richtung des Menschenauflaufs. »Balduin, der alte Hofmeister, ist aus dem Fenster gestürzt. Jeder hier im Palast mochte ihn. Es gibt hier wohl keinen, dem Balduin nicht schon einen Gefallen getan hatte. Er war die gute Seele des Palastes. Was rede ich ... des ganzen Königreichs!«
»Er könnte sich zu weit aus dem Fenster gebeugt haben …«
Raoul lachte zynisch. »Ein Unfall? Nein, in diesem Palast fällt man nicht versehentlich aus dem Fenster. Kommt, mein Freund.« Der Hauptmann führte ihn die Stufen zum Palasttor hinauf. Die beiden Wachen dort öffneten es auf einen Wink von ihm.
»Ich muss Euch gestehen, dass ich bis auf den heutigen Tag kein sonderlich gläubiger Mann war und dass meine Sympathien eher den alten Göttern als der Tjuredkirche galten. Von nun an werde ich Euren Glauben mit anderen Augen sehen. Euch hat wahrlich Gott geschickt! Ihr predigt doch, dass Euer neuer Orden Schwert und Schild Gottes sei ...«
»Der Kirche«, verbesserte Adrien ihn. »Gott braucht kein Schwert und keinen Schild.«
»Einerlei. Seid heute das Schwert Gottes!«
Schweigend gingen sie eine weite Treppe hinauf. Die vielen Stufen zehrten an Adriens Kräften. Er musste zweimal stehen bleiben, um Atem zu schöpfen.
Raoul sah ihn besorgt an. »Fühlt Ihr Euch nicht wohl?«
»Alles Blut!«
»Was?«
»Ich sag doch, alles Blut!«
Adrien konnte sehen, wie der Hauptmann schluckte. Raoul streckte ihm die Hand entgegen. »Die nehmt Ihr jetzt, oder ich lass Euch hier stehen!«
Er sah, wie der Hauptmann seine Rechte packte, aber er konnte es nicht spüren. Die letzten Stufen waren leichter zu schaffen. Sie erreichten eine Tür, vor der zwei Wachen standen.
»Ihr könnt nach unten gehen, Abschied von Balduin nehmen. Ich übernehme die Wache.«
Die beiden Krieger sahen Raoul und ihn an. Dann entfernten sie sich, ohne zu zögern.
»Ich schaff das allein.« Adrien hatte seine Stimme wieder im Griff. Aber sein Kopf schmerzte. Er fühlte sich an, als wolle er platzen. Wieder schien die Welt in zwei Bilder zerbrochen zu sein, die sich nicht zusammenfügten.
Er stieß die Tür auf.
Dünne, weiße Schleier wogten vor ihm. Verwundert sah er sich um. Hinter ihm fiel die Tür ins Schloss. Adrien zog sein Schwert. Er hatte Schwierigkeiten, die Hand um den Griff zu schließen.