Die Gefühle von Tausenden überwältigten sie, als sie in die Stadt einritt. Sie hielten Frieden. Trolle und Kentauren gingen nebeneinander. Kobolde sangen ihre anzüglichen Lieder. Einige Blütenfeen mischten sich aufgeregt unter die Schmetterlinge, als sie sie erkannten.
Eine Gasse bildete sich vor ihr in den überfüllten Straßen. Die Menge teilte sich vor ihr.
Sie hörte ihren Namen flüstern. Sah die ungläubigen Blicke und auch jene, die beschämt ihr Haupt senkten. Das Raunen wurde lauter. Dann eilte es ihr voraus und wuchs zu einem wahren Stimmensturm.
»Emerelle!«
Der Saal der fallenden Wasser
»Ist es noch weit bis zum Hafen? Wir sind spät!«
»Wir sind ganz nah«, log Anderan und lauschte auf das Lied des Wassers. Er deutete auf einen kleinen Durchgang, der vom Kanal abzweigte. »Dort vorne liegt mein Palast.
Das Herz des verborgenen Reichs des Herrn der Wasser von Vahan Calyd.« Warmes Licht fiel von dort in den Kanal.
»Ein Palast ... Hier unten?«
»Du solltest ihn gesehen haben, Elija. Es gibt keinen zweiten Ort wie diesen in Albenmark.«
»Wir sind spät«, drängte jetzt auch der Spinnenmann, der ihren kleinen Trupp anführte. Elijas Leibwächter achteten darauf, dass stets einer von ihnen zwischen dem Lutin und ihm stand.
Anderan duckte sich durch die Öffnung. Er trat auf einen kleinen Balkon, der hoch über dem Kuppelsaal lag, und nahm das einzigartige Bild in sich auf.
Ein Spinnenmann erschien neben ihm. Er blickte in die Tiefe. Es war gerade genug Platz für sie beide auf dem Balkon. Anderan bemerkte, dass auch der kaltherzige Meuchler länger verharrte, als notwendig gewesen wäre. Niemand entzog sich leicht diesem Anblick.
Elija trat auf den Balkon. Feine Wasserperlen legten sich auf sein Fell. Es war angenehm kühl hier.
Vor ihnen erstreckte sich ein weiter Kuppelsaal, dessen Wände aus makellos weißem Stein gefügt waren. Unter ihnen ging es mehr als zwanzig Schritt in die Tiefe. Die De-ckenwölbung lag vielleicht fünf oder sechs Schritt höher als ihre Aussichtsplattform.
Hell leuchtende Barinsteine waren darin eingelassen. Überall aus den Wänden ragten goldene Rohre, aus denen sich Kaskaden klaren Wassers in die Tiefe ergossen. Die meisten Rohre hatten kunstvoll geschmückte Mündungen. Sie zeigten Vogelköpfe mit gebogenen Schnäbeln, Delfine oder auch Wölfe. Sogar einige Drachenköpfe waren zu sehen. Die weit aufgefächerten Wasserfontänen, die sich aus ihren goldenen Rachen ergossen, schillerten im hellen Licht wie flüssiges Kristall. Die Luft war erfüllt vom feinen Dunst winziger Wasserperlchen. Schillernde Regenbögen spannten sich zwischen den Kaskaden.
Im Becken tief unter ihnen gab es mehr als zwanzig große Abflüsse. Das Wasser dort unten war zu schäumender Gischt aufgewühlt.
Die Stimmen des Wassers erhoben sich hier mit solcher Macht, dass man sich selbst schreiend kaum verständigen konnte. Manche empfanden das als einen Makel an diesem magischen Ort. Anderan sah das nicht so. Hier sprach das Wasser zu den Holden. Er mochte es, dem kraftvollen Lied zu lauschen. Der Kuppelsaal war das Herz der unterirdischen Stadt. All der Kanäle und Zisternen, der Sammelbecken und Verteiler. Einst hatten die Normirga, jenes Elfenvolk, dem die Königin entstammte, große Pumpen erschaffen, die das Wasser in Bewegung hielten wie riesige Herzen.
Man musste das Wasser hegen, sonst gäbe es in Vahan Calyd nur eine fahle abgestandene Brühe wie in den Mangroven rings um die Stadt. Die Holden waren die Hüter des Wassers, sie hielten das Wasser lebendig. Hier in diesem weiten Saal atmete es, wenn es aus großer Höhe stürzte und in brodelnder Gischt aufschäumte. Hier zeigte es sich in all seiner Schönheit.
Der Lutin tastete nach dem verborgenen Hebel unter dem Geländer.
»Schön. Wir sollten jetzt gehen«, rief Elija gegen das Donnern des Wassers an, als ein Laut wie ein dutzendfacher Gongschlag ertönte. Überall senkten sich zolldicke goldene Schotte und versperrten alle Abflüsse aus dem Saal.
»Hier, im Saal der fallenden Wasser, haben, als ich ein Kind war, all meine Träume begonnen. Hier sollen sie enden«, rief Anderan. Er blickte hinab. Man konnte zusehen, wie das Wasser stieg. Es würde nicht lange dauern, bis sich der ganze Saal gefüllt hatte.
»Was redest du da?«, fuhr Elija ihn an. »Bist du verrückt geworden?« Der Lutin drehte sich um. Jetzt erst sah er die massive, goldene Wand, die den Durchgang zu den Kanä-
len versperrte. »Mach das sofort auf!«
»Es gibt keine Möglichkeit, die Schotte von innerhalb des Saals zu öffnen.« Anderan fühlte zum ersten Mal seit vielen Monden inneren Frieden. Den ganzen Tag hatte er überlegt, ob er es wirklich tun sollte.
Elija hämmerte mit seinen Fäusten gegen das Metall. Es war hoffnungslos. Schließlich wandte er sich um. »Warum?«
Anderan hob die Pfeilspitze auf seiner Brust. »Du hast den Pfeil bezahlt, der dem Leben meines Sohnes ein Ende setzte. Durch dich sind Hunderte unserer treuesten Weggefährten im Windland zu Tode gekommen.«
Das Donnern des Wassers ließ langsam nach. Fast die Hälfte der goldenen Wasserspeier war bereits in den steigenden Fluten versunken.
»Du weißt, ich hatte keine Wahl.«
»Nein, ich weiß es nicht! Seit dem ersten Verdacht versuche ich zu begreifen, warum du es getan hast. Warum?«
»Es war eine historische Notwendigkeit. Die Königsherrschaft der Trolle konnte nur eine Übergangsphase auf dem Weg zur vollkommenen Gesel schaft sein. Um die Herrschaft der Trolle zu verkürzen, musste ich sie destabilisieren. Deshalb habe ich offiziell ihren Gesetzeskodex unterstützt und auch die Snaiwamark-Karawane. Sie mussten sich dadurch unter den entscheidungstragenden Schichten der Bevölkerung diskreditieren. Außerdem sollte ein siegloser Krieg im Windland ihren Willen zur Herrschaft aushöhlen. Auch ich habe Opfer gebracht. Von meiner ganzen Sippe leben nach dem Untergang der ersten Snaiwamark-Karawane nur noch Liza und mein Bruder Nikodemus. Versteh doch, Anderan! Diese Opfer waren notwendig, damit wir schneller den nächsten Schritt tun konnten. Jetzt öffne die Schotten! In einer Stunde wirst du König sein! Dann können wir endlich die Gesel schaft erschaffen, von der wir träumen! Ja, wir mussten Hunderte opfern. Ich habe diese Entscheidung bewusst allein getroffen, um niemanden aus dem Kreis der Kommandanten mit dieser Seelenqual zu belasten. Aber Tausende werden gerettet sein, wenn wir die Herrschaft der Trolle in dieser Nacht beenden. Jetzt öffne die verdammten Tore! Wenn du es so enden lässt, dann sind alle vergebens gestorben. Verhöhne nicht den Tod deines Sohnes, mein Freund! Lass uns gehen!«
Die Macht seiner Worte war ungebrochen, dachte Anderan. Alles erschien ganz plausibel, wenn Elija so sprach. Er durfte sich dieser Art des Denkens nicht öffnen!
Welche einsamen Entscheidungen würde Elija als Nächstes fällen? Dass die Elfen eine latente Gefahr für den Frieden innerhalb der neuen Gesellschaft waren? Dass Städte den Verfall der Moral förderten und alle Albenkinder in kleinen Siedlungen auf dem Lande leben sollten?
Es gab viele Streitschriften Elijas, denen er selbst jetzt noch mit ganzen Herzen anhing.
Aber der Lutin hatte in den langen Jahren des Kampfes um die Macht seinen Weg verloren.
»Du kannst doch nicht einfach alles zerstören, Anderan! So kurz vor dem Ziel!
Bedeutet dir die Freiheit der Koboldvölker von jeglicher Tyrannei denn gar nichts mehr?«
»Es bedeutet mir alles. Deshalb werden wir beide hier sterben.« Das Wasser drang auf den Balkon. »Ich rette Albenmark vor unserer Tyrannei. Und ich rette all deine guten Werke.«
»Du Narr!« Elija packte ihn. »Jetzt öffne endlich die Tore! Es muss eine Möglichkeit geben! Wenn das Wasser nicht mehr abfließen kann, würdest du deine geliebten Kanäle zerstören. Das würdest du niemals tun.«
Anderan bewunderte ihn für seinen klaren Verstand, selbst jetzt im Angesicht des Todes. »Es stimmt, ich würde diese Kanäle niemals zerstören. Ich bin der Herr der Wasser, ihr Hüter. Wenn der Saal vollgelaufen ist, wird sich das Wasser in den Zuflüssen zurückstauen. Nach einer Zeit öffnet sich dann eine Überlaufschleuse. Wir werden dann längst ertrunken sein. Der Strom des abfließenden Wassers wird uns weit hinaus in die Mangroven tragen, wo unsere Kadaver zum Fraß der Winkerkrabben werden.« Das Wasser reichte ihnen beiden jetzt bis über die Hüften. »Wir werden niemals gefunden werden. Deine Leibwächter werden geheim halten, was geschehen ist. Sie werden nicht die Geschichte ihres eigenen Versagens verbreiten. Weil wir auf so geheimnisvolle Weise am Tag der Königswahl verschwunden sind, wird die Erinnerung an uns weiterleben, Elija. Das ist mein Geschenk an dich, den Mörder meines Sohnes. Ich hätte dich als König vor ein Gericht stellen können. Doch mit deiner Verurteilung wäre alles untergegangen, was du Gutes bewirkt hast. Du warst auf dem richtigen Weg. Und ich habe nicht bemerkt, wann du ihn verloren hast.«