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Kadlin versuchte in den Spuren der Trolle zu lesen. Sie hatten das tote Rentier nicht angerührt.

»Es hat ihnen Angst gemacht«, sagte Melvyn.

Mir macht es auch Angst, dachte Kadlin. Aber sie schwieg. Auch sie blickte in den Himmel. Lag dort die Antwort? Etwas regte sich in ihr. Erschrocken griff sie nach ihrem Bauch. Sie spürte eine Berührung. Einen Tritt? Es war das erste Mal... So lange hatte sie darauf gewartet. Hatte in sich hineingelauscht und mit ihren Ängsten gekämpft. Und ausgerechnet jetzt regte es sich.

»Alles in Ordnung?«

Sie nickte. Sie hatte Melvyn nichts davon gesagt. Sie war besessen von der Idee, Alfadas zurückzuholen. Ihren Vater, den das Schicksal ihr lange vor der Zeit geraubt hatte. Sie musste es schaffen. Entschlossen blickte sie nach Norden. »Gehen wir!« Sie wollte nicht wissen, wie das Rentier gestorben war. Wollte nicht darüber nachdenken, was außer Trollen noch in den Bergen lauern mochte. Sie hielt die Hand auf dem Bauch und kämpfte sich durch den Schnee, ohne noch einmal zu dem Kadaver zurückzublicken.

Spurenleser

Skanga betastete das kleine Klümpchen, das sie am Boden gefunden hatte. War es ein Finger oder ein Zeh? Auf jeden Fall gehörte es zu einem Kobold. Sie roch daran und dachte, dass sie schon viel zu lange nichts mehr gegessen hatte. Sie konnte die Angst spüren, das letzte starke Gefühl, das den ehemaligen Besitzer des Körperglieds durchfahren hatte. Angst tränkte den ganzen Saal. Sie war mit dem Blut in die hölzernen Bodendielen gesickert. Welch ein Massaker! Die Leichen waren leider schon fortgeschafft, aber das Blut hatte noch niemand abgewaschen. Sie spürte es mit all ihren Sinnen, auch wenn sie es nicht sehen konnte. Die Ratskammer war ein Ort des Schreckens geworden. Es war nicht nur das Entsetzen der Ge-mordeten. Auch der Schrecken derjenigen, die später hier gewesen waren und das Blutbad gesehen hatten, hatte die Aura dieses Saals auf ewig verändert. Wer immer hier in Zukunft zusammenkam, würde eine Beklommenheit verspüren, selbst wenn er nicht um die unselige Geschichte der Kammer wusste. Vermutlich wäre es das Klügste, das ganze Haus niederzubrennen.

»Das Blut ist sogar bis an die Decke gespritzt«, flüsterte Birga ihr ins Ohr.

In der Stimme ihrer Schülerin schwang Ehrfurcht. Sie mochte es, Gefangene zu befragen, und war dabei alles andere als zimperlich. Vor allem, wenn Elfen ihre Opfer waren. Es gehörte einiges dazu, sie zu beeindrucken.

»Wie viele waren es?« Skanga legte den Kopf in den Nacken. Die Blutspuren an der Decke waren nicht ausgeprägt genug. Sie konnte sie mit ihren Sinnen nicht wahrnehmen.

»Nur zwei«, sagte Madra, der Überlebende. Eigentlich hätte auch er hier unter den Toten liegen sollen. Dass Gharub ihn mit einem schwachsinnigen Auftrag zu einem Außenposten vor der Stadt geschickt hatte, hatte ihm das Leben gerettet.

»Wie kommst du darauf?«, herrschte Birga ihn an. »Nicht einmal Olowain hätte so etwas vermocht.«

»Die Stiefelabdrücke im Blut. Sie unterscheiden sich deutlich von den Spuren der Trolle und Kobolde. Die beiden hatten unterschiedlich große Füße. Das Weibchen be wegte sich mit der Gewandtheit einer Tänzerin. Ihr Gefährte war unbeholfener ... «

Skanga hörte die hölzernen Dielen knarren. Madra ging auf und ab, und nicht einmal die nichtsnutzige Birga wagte es, ihn zu stören. Endlich verharrte er wieder. »Der Krieger war nur anfangs zögerlich. Dann stand er dem Weibchen in nichts mehr nach.«

»Woran siehst du, dass es ein Krieger und ein Weibchen waren?«, fragte Birga.

»Ich vermute es nur. Die beiden gefangenen Elfen aus dem Kerker haben sich gewaltsam befreit. Ein Elf und eine Elfe. Das Weibchen hieß Nandalee. Der Krieger hat seinen Namen, glaube ich, nicht genannt. Die Stiefelabdrücke passen zu ihnen. Das Weibchen war klein und zierlich. Und auch einer der Mörder hier trug sehr schmale Stiefel.«

Skanga tastete nach dem Albenstein, den sie unter ihren Amuletten verborgen trug.

Die glatte Oberfläche zu spüren, beruhigte sie. Es war kein Zauber in dieser Kammer gewirkt worden. Die beiden Elfen hatten keine Magie nötig gehabt, um zu siegen.

»Beschreibe mir einmal das Weibchen, Madra.«

Der Trollkrieger war ein guter Beobachter. Selbst an den Geruch der Elfe konnte er sich erinnern. Bald war Skanga klar, wen dieser dämliche Kobold auf der Straße am Kanal aufgegriffen hatte. Was die Schamanin nicht verstehen konnte, war, warum Emerelle dieses merkwürdige Spiel trieb. Warum hatte sie sich die Hand zerquetschen lassen?

Sie wäre gewiss zu jedem beliebigen Augenblick in der Lage gewesen, sämtliche Wachen niederzumachen. War das der Beginn eines neuen Krieges um den Thron von Albenmark? Sie hatte erleichtert gewirkt, als sie Burg Elfenlicht verließ. Hatte sie ihre Meinung so schnell geändert? Oder war das hier nur einer Laune der Elfenkönigin entsprungen? So lange schlug Skanga sich nun schon mit Elfen herum. Aber jedes Mal, wenn sie glaubte, sie würde endlich verstehen, was in ihren zerbrechlichen kleinen Köpfen vor sich ging, überraschten die Spitzohren sie aufs Neue. Sie waren mit Abstand das grausamste Volk Albenmarks, auch wenn sie diese Neigung nur selten so offen auslebten, wie es hier in dieser Kammer geschehen war.

Ein leises Hüsteln riss die Schamanin aus ihren Gedanken. »Schwester Skanga? Wenn du mir einen Augenblick deiner geschätzten Aufmerksamkeit schenken könntest, würde ich dich gerne auf etwas hinweisen, was, so glaube ich, die Interessen des Volkes berührt.«

Skanga drehte sich um. Nikodemus Glops hatte die Angewohnheit, so dicht hinter ihr zu stehen, dass ein Furz von ihr ihm gewiss den Atem nehmen würde. Der Lutin war ein Speichellecker und Schmeichler. Sie konnte ihn nicht leiden. Aber sie wusste, sie würde ihn noch brauchen. Allein seine gestelzte Art zu reden ärgerte sie schon. Was taugte Sprache, wenn man sie dazu benutzte, um zu verschleiern, was man sagen wollte! Und diese Unsitte der Kobolde um Elija Glops, jeden mit Bruder oder Schwester anzureden ... Wie konnte ein Kobold, der kaum halb bis zu ihrem Knie reichte, sich anmaßen, sie Schwester zu nennen? Die Rotmützen waren völlig verrückt geworden.

Sie erzählten jedem, alle Kinder Albenmarks seien gleich. Blanker Unsinn!

»Was willst du?«

»Es ist sicherlich von größter Bedeutung, in den Spuren auf dem Boden zu lesen ...

Eine Kunst, in der ich leider unerfahren wie ein Kind bin, aber ich dachte mir, es könnte vielleicht weiterhelfen, darauf hinzuweisen, dass etwas mit Blut an die Wand geschrieben wurde. Es ist nicht sehr ordentlich ausgeführt ... Wahrscheinlich hat man einen abgetrennten Arm oder etwas Ähnliches zum Schreiben benutzt. Unter den ganzen Blutspritzern kann man es leicht übersehen ... «

Skanga überhörte nicht, dass der Lutin sich über sie lustig machte. Er war der Einzige in der Kammer, der lesen konnte. Und er war sich dessen sehr bewusst, auch wenn er versuchte, seinen Spott hinter schmeichlerischen Worten zu verbergen. »Was steht da?«

»Wer durch das Schwert herrscht, wird durch das Schwert fallen. Auf Elfisch hört sich das etwas poetischer an als in der Übersetzung.«

Skanga sah ihn genau an. In seiner Aura fehlte die Farbe der Angst. War er so selbstsicher oder so dumm, dass er glaubte, er könne sie ungestraft reizen? Die Lutin unterschieden sich von den anderen Koboldvölkern. Sie waren rastlose Wanderer.

Niemand mochte sie lange um sich haben. Selbst bei anderen Kobolden galten sie als Lügner und Diebe. Skanga nahm ihn, wie alle anderen Lebewesen auch, nur als einen verschwommenen Schatten wahr, umgeben von einer Aura aus sanft pulsierendem Licht. An den Farben der Aura konnte sie seine Stimmungen ablesen. Was die Gefühle anderer anging, war sie sich sicherer als jeder Sehende. Selbst feinste Veränderungen der Stimmungslage waren deutlich an der Aura abzulesen...

Je länger sie Nikodemus betrachtete, desto deutlicher wurde das Blau. Er war also doch nicht gegen Angst gefeit!

»Was, glaubst du, wollen die Elfen uns damit sagen?«