Jetzt konnte der Junge auch Äste im Nebel über sich ausmachen. Äste, so dick wie die Stämme der ältesten Bäume, die er weiter unten nahe dem Ufer gesehen hatte.
Graugrüne Blätter mit weißer Unterseite bewegten sich lautlos in der Brise. Der Baum war stumm. Der Wind vermochte den Blättern kein Rascheln zu entlocken. Nur die schweren, rostigen Eisenketten, die von manchen der Äste hingen, klirrten leise. Weitere Leichen waren dort aufgehängt. Und Schilde mit einem weißen Stierkopf auf rotem Grund. Es gab auch andere Wappen, aber die Schilde mit dem Stierkopf waren bei weitem am häufigsten, und es war auch das einzige Wappen, das Adrien kannte. Die Krieger des Königs Cabezan trugen solche Schilde. Die Geschichte über den Versuch, Säulen für seinen Palast zu stehlen, stimmte also! Was sonst sollten die Krieger in dieser Wildnis verloren haben?
Der Junge machte einen weiten Bogen um den Baum. Er erinnerte sich an die Worte des Schiffers. Er musste sich beeilen, wenn er Bruder Jules noch vor Einbruch der Nacht finden wollte.
Das Klirren der Ketten begleitete ihn. Er hatte das Gefühl, dass der Baum ihn beobachtete. War es der makabere Schmuck? War es die Größe? Der Baum machte ihm Angst. Jeden Augenblick rechnete er damit, dass sich die wulstigen Münder öffneten und die toten Krieger ausspien, damit diese ihn ergriffen und ihn zu sich holten. Oder dass ein Elf aus dem Nebel trat, um ihn in die verwunschene Anderswelt zu locken.
Plötzlich fühlte sich der Boden unter seinen Füßen fester an. Adrien wagte es nicht hinabzusehen. Seine Gabe, sich die schrecklichsten Dinge auszumalen, gaukelte ihm auch so schon die ungeheuerlichsten Erklärungen vor.
Der Junge wusste, dass ihn der unheimliche Baum noch lange in seinen Alpträumen verfolgen würde. Er brauchte nicht noch mehr Schreckensbilder!
Trotz aller Vorsätze, nicht auf seine Füße zu blicken, kam er nicht umhin, zu bemerken, dass keine Baumwurzeln in die Richtung verliefen, in die er nun ging. Sie bogen ab, suchten sich andere Wege, als sei irgendetwas unter der Laubschicht, das sie abschreckte.
Was erschreckte einen Baum?
Adrien ging ein wenig schneller. Der Boden wurde immer fester. Vielleicht waren es ja nur Felsen, dachte er, aber in diesem verwunschenen Wald mochte er nicht wirklich daran glauben. Der Boden unter seinen Füßen fühlte sich zu eben an.
Die klirrende Stimme des Baumes raunte über ihm im Nebel. Wollte sie ihm ein Geheimnis mitteilen? Ihn warnen?
Das war verrückt! Er begann zu laufen. Blasse Schemen zeichneten sich im Nebel ab.
Zwei sitzende Löwen, groß wie das Flusstor von Nantour. Einem fehlten der halbe Kopf und ein großes Stück der linken Schulter. Der andere war unversehrt. Mit drei Augen blickten sie auf ihn herab, so wie er auf eine Maus hinabsehen würde. Zwischen ihnen verlief ein weiter Weg, der hinauf in die Berge führte. Aus den Rücken der Löwen wuchsen große, angelegte Schwingen. Welch ein Unsinn! Wer hatte je von geflügelten Löwen gehört! Gedankenverloren betrachtete er die seltsamen Fabeltiere.
Was hatte der Schiffer gesagt? Achte auf die Löwen. Markierten sie den Weg, den er nehmen sollte? Auf jeden Fall erschienen sie ihm vertrauenerweckender als der Baum.
Löwen waren stolz und edel! Und sie fressen Menschen, meldete sich ungefragt jene innere Stimme zu Wort, die immer nur das Schlimmste vermutete.
»Der Baum hinter mir auch«, murmelte Adrien leise, dann folgte er dem Weg. Er war aus großen, weißen Steinplatten gefügt. Die Straße in die Berge wirkte so alt wie die Berge selbst. Wind und Wetter hatten Spuren hinterlassen. Manche der Platten waren gerissen oder leicht verschoben. Moos wucherte in den Fugen.
Bald kam er an eine Treppe, die sich an eine steile, rotbraune Felsflanke lehnte. Die Stufen waren mehr als zehn Schritt breit. Hier könnte eine ganze Armee marschieren.
Schulter an Schulter, Glied um Glied.
Etwas mit den Stufen stimmte nicht. Je mehr er erklomm, desto deutlicher wurde ihm das. Sie waren ein klein wenig zu hoch, als dass man sie bequem hätte er klimmen können. Es war wie in Kindertagen, als Treppen noch eine Herausforderung waren.
Je mehr seine Beine schmerzten, desto klarer drängte ein Gedanke in seinen Verstand.
Diese Stufen waren nicht für Menschen gemacht.
Elfen sind Dumm
Nikodemus mochte seinen Gefährten nicht. Er war schon Hornschildechsen begegnet, mit denen man besser reden konnte als mit diesem Troll. Mürrisch und schweigsam stapfte der Hüne hinter ihm durch den hohen Schnee. Seit Tagen waren sie unterwegs.
Nikodemus war stolz darauf, der Auserwählte der berühmten Trollschamanin zu sein.
Ihm hatte sie es anvertraut, die beiden niederträchtigsten Mörder zu stellen, die Albenmark je gesehen hatte. Feinde des Volkes, wie man sie sich schlimmer nicht vorstellen konnte. Grausame Unterdrücker, die einen ganzen Gerichtssaal niedergemetzelt hatten. Alle Zeugen der Verhandlung, in der sie für ihre perfiden Verbrechen zur Rechenschaft gezogen worden waren, hatten den Tod gefunden.
Der Lutin blickte über die Schulter zu dem Troll zurück. Angeblich hatte Madra dem Beginn des Prozesses beigewohnt, aber der hatte ja seine Zunge verschluckt. Zu gerne hätte Nikodemus gewusst, wessen die Elfen angeklagt waren. Welche Schrecken so groß waren, dass alle Zeugen der Verhandlung sterben mussten, damit die Wahrheit über die Untaten der beiden nicht ans Licht kam.
Bevor er Feylanviek verließ, hatte Nikodemus seinem Bruder Elija einen Brief geschrieben, in dem er ihn über die Ereignisse unterrichtete. Auch wenn der Thron von Burg Albenmark erobert war, war doch die Schlacht um die Herzen des Volkes noch nicht entschieden. Das Massaker von Feylanviek mochte vielen Unentschlossenen die Augen öffnen. Zu deutlich offenbarte es das Wesen der Elfen. Elija würde den Bericht gut zu nutzen wissen! Obwohl er größten Respekt vor der Schamanin empfand, hatte Elija den Brief lieber nicht Skanga anvertraut. In manchen Dingen waren die Trolle einfach barbarisch!
Nicht einmal ihre Anführer konnten lesen und schreiben. Wäre er nicht im Gerichtssaal gewesen, womöglich hätte niemand die Drohung bemerkt, die an die Wand geschrieben war. Solchen Verbündeten musste man leider zutrauen, dass sie einen Brief benutzten, um sich damit den Hintern abzuwischen. Aber so war nun mal die Dialektik der Revolution. Die Streiter des Geistes hätten niemals ohne die Streiter der Faust triumphiert. Und in ganz Albenmark gab es keine größeren Fäuste als Trollfäuste.
Nikodemus konnte die pulsierende Macht des Albenpfades durch die Schneedecke hindurch spüren. Und er konnte auch die Macht des nahen Sterns fühlen. Seine Rute begann zu kribbeln, und alle Haare darauf standen ihm zu Berge, wenn er sich einem Albenstern näherte. Das machte keinen sehr männlichen Eindruck, aber in Gegenwart des Trolls war ihm das egal.
Skanga hatte nach Kopfgeldjägern, Fährtensuchern und anderen Lutin geschickt, um die Spur der beiden flüchtigen Elfen aufzunehmen. Doch ihn hatte sie als Allerersten von der Kette gelassen. Auch wenn der große Zeh seines Leibwächters Madra massiger war als seine Faust, würde er, Nikodemus Glops, es allen zeigen. Er war ein Held, das hatte er schon immer gewusst. Leider hatten ihm die Schlachten im Windland wenig Gelegenheit geboten, dies zu beweisen. Aber jetzt war seine Stunde gekommen!
Sie schritten einen sanften Hügel hinab. Es war ein strahlender Sonnentag. Das Licht brach sich blendend auf dem frischen Schnee. Der Himmel spannte sich in makel osem Blau über ihnen. Nur in der Ferne zogen einige einzelne weiße Wolken dahin.
Am Fuß des Hügels lag der Albenstern. Deutlich spürte Nikodemus die Macht des Ortes, auch wenn es nur ein minderer Stern war. Vier Wege kreuzten sich hier. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, diesen Ort zu markieren. Wer in die Nähe Feylanvieks reiste, der nutzte die beiden größeren Sterne.