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Der Fels war kalt. Der Stein trank seine Wärme. Die Fin ger wurden schnell taub. So fühlte er wenigstens keinen Schmerz, wenn er sie sich aufschürfte. Keilen gleich trieb er sie in seine Spalten. Er würde sich seine neuen Stiefel ruinieren, dachte er ärgerlich. Nach der Kletterei würde das Leder verschrammt sein.

Vielleicht platzten auch die Nähte. Wenn er einmal Glück bei etwas hatte, dauerte es keinen Tag und alles war wieder verdorben. Als hätte ihn jemand verflucht!

Seine Fingerspitzen ertasteten Eis. Es zog sich über eine kleine Felsnase, die kaum zwei Zoll weit aus der Wand ragte. Sie hätte einen guten Griff abgegeben, wäre da nicht das Eis. Adrien fluchte. Er tastete über die Wand. Eine Spalte war vom Eis versiegelt worden. Endlich fand er einen Ritz, in den er drei Fingerspitzen so weit hineinschieben konnte, dass er es wagte, den rechten Fuß von seinem sicheren Platz zu nehmen und mit ihm über den Felsen zu tasten. Er fand ein Sims und kam ein Stück weiter voran.

Mit der Dämmerung war der Wind aufgefrischt. Er strich über die Wand. Eine Wolke von Sprühwasser benetzte Adriens Gesicht. Der verdammte Wasserfall! Er würde hindurchsteigen müssen. Das Wasser hatte nicht viel Kraft; es war kaum mehr als ein armdicker Strahl, der in die Tiefe stürzte. Aber es würde eisig sein. Wenn er dort hindurch war, dann würde er schnell ein warmes Quartier brauchen!

Warum ließ Jules ihn einen solchen Weg gehen? War es dem Priester egal, ob er lebend bei ihm ankam?

Wieder blies ihm der Wind Sprühwasser ins Gesicht. Er brauchte immer länger, um doch nur einen unsicheren Halt zu finden. Ja, er war verflucht! Aber er würde sich nicht beugen. Je schlimmer es wurde, desto wütender wurde er. Sein Zorn wärmte ihn.

Und er verlieh ihm neue Kraft.

Noch ein Griff. Jetzt spritzte ihm Wasser mitten ins Gesicht. Der Fels war ganz in Eis gekleidet. Adrien hielt sich an einem Dorn fest, der aus der Wand ragte. Schwang sich tollkühn ein Stück weiter. Das Wasser strömte über ihn hinweg. Es war so kalt, dass es ihm den Atem raubte. Mit offenem Mund hing er in der Steilwand, unfähig, seine Lungen mit Luft zu füllen.

Unfähig, seine Wut herauszuschreien, obwohl sie ihn schier bersten lassen wollte.

Nass hingen seine zerklumpten Kleider an ihm herab. Aber seine Füße waren noch trocken. Wenigstens das, dachte er zynisch. Und plötzlich musste er lachen. All das hier war ein Witz. Ein toter Schiffer! Wohin mochte der ihn schon schicken, außer ins Verderben! Wie hatte er jemals glauben können, dass Jules ihn hier erwartete. Unsinn!

Hier in dieser Einöde gab es nur Steine und den Tod!

Man mochte ihn leicht hereinlegen können, aber leicht umzubringen war er nicht!

Trotzig kletterte er weiter. Schneller nun. Eilig tasteten die Finger über die vereiste Wand. Und immer fanden sie einen Halt. Er klammerte sich an einen Eiswulst. Der Schatten der Berge war nun schon bis zu seinen Hüften die Steilwand hinaufgekrochen. Die Finsternis würde ihn verschlingen, dachte er beklommen, während sein Fuß nach einem Sims suchte. Er hätte mit nackten Füßen klettern sollen.

Damit fand man besseren Halt. Und er hätte seine kostbaren Stiefel geschont!

Er verlagerte sein Gewicht. Streckte das Bein noch etwas weiter aus. Es war wie verwunschen. Nichts! Viel eicht müsste er ein Stück zurück. Wieder dem Wasser entgegen. Er streckte sich noch ein wenig mehr.

Ein scharfes Knacken ließ ihn bis ins Mark erschrecken. Der Eiswulst brach aus der Wand. Seine Hand glitt über gefrorenen Stein. Er drückte sich fest gegen die Wand und rutschte ab. Panisch versuchte er etwas zu packen zu bekommen. Sein Kinn schlug auf ein schmales Sims. Der Kopf wurde ihm durch den Aufprall in den Nacken gerissen. Er glitt weiter. Benommen nun. Ergeben ... Plötzlich fanden seine Füße Halt.

Ein Steg, groß wie ein Fußschemel. Seine Linke schoss in eine Spalte. Die Finger krümmten sich, sein Körper federte nach. Er hatte sich wieder in der Gewalt. Fünf Schritt oder sechs war er tiefer gerutscht. Der Schatten hatte ihn gefressen. Nur ein kleines Stück weiter war eine eiserne Angel in die Wand geschlagen. Dann noch eine. Er blinzelte. Jemand hatte hier einen Weg bereitet.

Er sah am Fels entlang zurück. Auch dort gab es rostige Griffe. Und eine tiefe Ausbuchtung in der Steilwand schützte vor dem Wasser, das gleich einem Vorhang daran vorbeistürzte. Er hätte länger suchen sollen!

Schlotternd vor Kälte brachte er das letzte Stück Wegs an der Steilklippe hinter sich.

Wieder auf den sicheren Stufen angelangt, begann er zu laufen. Ihm musste wieder warm werden! Die Finsternis des Tunnels verschluckte ihn. Hier führte der Weg in sanfter Neigung bergan. Es gab keine Stufen mehr. Dennoch tastete sich Adrien vorsichtig vorwärts. Der Weg schien endlos, bis sich ein blassroter Lichtpunkt am Ende des Tunnels abzeichnete.

Ungeduldig beschleunigte der Junge seine Schritte. Der Lichtpunkt wuchs an. Bald sah er den Himmel im letzten Abendrot. Er war überrascht, dass es noch nicht dunkel war.

Als er aus dem Dunkel trat, erstreckte sich vor ihm ein Tal, das sich nach Westen hin öffnete. Es war verschneit. Hunderte Säulen erhoben sich wie ein steinerner Wald. Und noch weit mehr lagen niedergestürzt zwischen Ruinen und Schutthügeln, denen der Winter ein weißes Gewand übergeworfen hatte. Was für eine Stadt hatte hier einst gestanden? Eine Stadt der Paläste? Wozu hatte man so viele Säulen gebraucht? Und warum wuchs hier nichts? Noch bevor der Weg in den Tunnel mündete, hatten sich zumindest vereinzelt Bäume und Büsche am Felsen festgeklammert. Hier aber gab es nichts. Nur Schnee und Ruinen.

»Du hast es also geschafft, Adrien.«

Der Junge zuckte zusammen und wich erschrocken ein Stück in den Tunnel zurück.

Geröll knirschte unter Schritten. Eine Gestalt in blauem Priestergewand erschien am Eingang. »Ich freue mich von Herzen, dich zu sehen. Du kannst stolz auf dich sein. Du hast einen schweren Weg gemeistert. Jetzt bleibt nur noch eins zu tun ... «

Adrien erkannte die Stimme von Bruder Jules. Ihm erschien der Priester hier inmitten der Wildnis noch größer und ehrfurchtgebietender als in der Stadt. Nie war er einem Gottesdiener wie ihm begegnet. Er strahlte wahre Macht aus.

Der Junge lehnte sich an die Felswand. Er fühlte sich zu Tode erschöpft. »Was soll ich noch tun?«

»Ich möchte, dass du mein Schüler wirst. Auch wenn ich mir nicht ganz sicher bin, ob du es wert bist. Ich habe dir ein großes Geschenk zu machen. Ich weiß um deine Vergangenheit und um deine Zukunft. Dein wirklicher Name ist Michel. Michel Sarti!

Dein Vater war ein bedeutender Mann, zumindest am Ende seines Lebens. In seiner Jugend hat er einige Dinge getan ... Doch das musst du jetzt nicht erfahren. Wichtig ist nur, dass du weißt, dass dich ein außerordentliches Erbe erwartet. Du wirst eines Tages ein gemachter Mann sein. Wenn du ein guter Schüler bist.«

Das kam alles zu schnell und unerwartet für Adrien. Er fühlte sich, als habe ihn ein auskeilendes Kutschpferd getreten. Von seiner Erschöpfung und diesen überraschenden Enthüllungen ganz benommen, vermochte er keinen klaren Gedanken zu fassen.

Seine Mutter war eine Dirne gewesen. Es war unmöglich, zu wissen, wer sein Vater war. Völlig unmöglich! Nie zuvor hatte er diesen Namen gehört. Michel Sarti. Aber das würde er nicht erzählen. Ihm stand ein Erbe zu ... Und wenn der Priester der Meinung war, es müsse ihm ausgehändigt werden, dann wäre er ja schön blöd, wenn er sich alles verderben würde und mit der Wahrheit über seine Abstammung herausrückte!

»Ich bin überrascht, ehrwürdiger ... «

Bruder Jules unterbrach ihn mit einer knappen Geste. »Du musst noch eine letzte Probe bestehen, bevor ich dich als Schüler aufnehme. Auch wenn dein Vater als ein Held starb, so war er die meiste Zeit in seinem Leben doch ein elender Hurenbock. Ich bin überzeugt, wenn ich weitersuche, werde ich leicht noch zwei oder drei seiner Sprösslinge auftun. Aber ich bin es müde, alten Huren und leichtfertigen Schankmädchen hinterherzuschnüffeln, um herauszufinden, wer wohl ein Kind von ihm bekommen haben könnte. Also bitte bemüh dich. Und jetzt komm mit.« Er drehte sich ohne ein weiteres Wort um.