Adrien war zu verwundert, um etwas einzuwenden. Was für ein Erbe mochte ihn erwarten? Wie bedeutend war der Besitz seines Vaters wohl gewesen? War er vielleicht ein Adeliger? Er stellte sich vor, dass ihm ein festes Haus und ein Stall voller Pferde gehören könnten. Ein richtiges Bett und eine Tafel, auf die jeden Tag warmes Essen aufgetragen wurde. Und schöne Kleider. Was würde das Blumenmädchen vom Heumarkt wohl sagen, wenn er auf einem stolzen Ross vor ihr erschien? Er müsste sich dann nicht mehr schämen, sie nach ihrem Namen zu fragen.
Mit festem Schritt folgte er dem Priester. Seitlich des Tunnelausgangs führte ein schmaler Trampelpfad den Berg hinauf. Hier wucherte niedriges Buschwerk. Beeren-ranken mit langen Stacheln zerrten an seinen Kleidern. Es schien, als wolle ihn die Natur zurückhalten. Ihm verweigern, was sein zügelloser Vater ihm als spätes Erbe hinterlassen hatte. Falls Jules sich nicht irrte und in ihm den Falschen aufgespürt hatte.
Der Priester blieb unter einer vom Wind gebeugten Zeder stehen. An ihrem Stamm lehnten ein Spaten und eine Spitzhacke. »Du wirst hier bei dem Baum eine Grube für mich ausheben, Junge. Sie soll zwei Schritt lang sein und etwa einen Schritt breit. Und sie muss mindestens so tief sein, dass du bis zu den Hüften darin verschwindest.«
Adrien kniff die Lippen zusammen. Was das zu bedeuten hatte, war allzu deutlich.
Jetzt bemerkte er hinter der Zeder zwei flache Hügel im Schnee. Er war wohl nicht der Erste, der aufgefordert wurde, hier eine Grube zu graben.
Eben noch hätte er vor Freude jauchzen mögen, weil sein Schicksal sich so überraschend zum Besseren gewandt hatte, und jetzt drohte schon wieder alles zu Asche zu werden. Er blickte auf das Tal. Das Dämmerlicht ließ die Säulen mit der Dunkelheit verschmelzen. Dort unten gab es keinen Ort, an dem er Wärme gefunden hätte. Und zurück konnte er auch nicht mehr. Er war Jules ausgeliefert.
Der Priester schlug die weite Kapuze seines Gewandes zurück. Er hatte ein markantes Gesicht. Die Falten um seine Augen und den Mund deuteten an, dass er gerne lachte.
Sein rabenschwarzes Haar war kurz geschoren. Erstes Grau hatte sich an den Schläfen eingenistet. Sicher hatte er mehr als dreißig Sommer gesehen. Oder waren es vielleicht fünfzig? Nein. Der Mund war nicht eingefallen. Er schien noch die meisten seiner Zähne zu haben. Fünfzig konnte er unmöglich sein!
Ganz besonders auffällig waren seine Augen. Sie waren von einem lebendigen, einnehmenden Blau.
»Wirst du deine Arbeit schaffen?«
»Ich bin müde, Herr. Der Weg war schwer ... «
»Es ist die letzte Probe. Dann wirst du mein Schüler sein.« Er sagte das auf so herzliche Weise, dass man ihm nichts übelnehmen mochte. Adrien hatte das Gefühl, einem guten, alten Freund gegenüberzustehen. Einem, bei dem man ganz sicher sein konnte, dass er nur das Beste wollte. Und er hatte ja auch wegen der Stadt Recht behalten. In der Nacht nach seiner Flucht auf den Lastkahn war ein schrecklicher Sturm über das Land gezogen. Hätten die Stadtwachen ihn gefangen und draußen am Pranger vergessen, wie Jules geweissagt hatte, dann wäre er jetzt schon tot.
Der Priester wusste irgendetwas. Etwas, das er jetzt nicht mit ihm teilen wollte. Aber es war zu seinem eigenen Besten, wenn er jetzt auf Jules hörte und sich ohne Wider-worte daran machte, ein Grab auszuheben, auch wenn er so müde war, dass er im Stehen hätte schlafen können.
»Du wirst das schaffen«, sagte Jules aufmunternd. »Du bist stark. Das sehe ich. Du bist aus dem gleichen Holze wie dein Vater geschnitzt.
Einst ist er in einer Schlacht sieben Mal verwundet worden. Er hatte gegen heimtückische Elfen gekämpft. Doch er blieb einfach stehen und kämpfte weiter, wo andere, Schwächere gestorben wären.« Der Priester deutete noch ein Stück weiter den Hang hinauf. »Siehst du den schwarzen Busch dort oben? Dahinter liegt unsere Hütte.
Dort gibt es ein wärmendes Feuer und eine kräftige Brühe mit fettem Fleisch darin.
Das alles wartet auf dich. Beeil dich, mein Freund.« Jules klopfte ihm noch einmal aufmunternd auf die Schulter. Dann ging er in die Richtung davon, in die er gerade gedeutet hatte.
Als er sich entfernte, kehrte Adriens Erschöpfung schlagartig zurück. Seine Hände zitterten, als er nach dem Spaten griff. Die Finger waren verschorft. Müde stach er das Spatenblatt in den Schnee. Mit einem knirschenden Geräusch stieß es durch die verharschte oberste Schicht. Der Boden unter dem Schnee jedoch war hart wie Stein gefroren.
Verzweifelt blickte der Junge zum Horizont. Dem Rot war ein blassblaues Licht gefolgt, das zum Himmel hinauf immer dunkler wurde. Der Mond war schon aufgegangen. Es zeigten sich kaum Wolken. Er würde fürchterlich kalt werden in dieser Nacht.
Erwachen
Falrach spürte deutlich, dass sie beobachtet wurden. Das Gefühl war so stark, dass er es fast wie eine sanfte Berührung empfand. Das war neu für ihn. Emerelle lag in seinem Arm. Er spürte ihren regelmäßigen Atem. Warum merkte sie nichts?
Er öffnete seine Augen einen Spalt weit. Ihr Lagerfeuer war längst erloschen. Zunächst hatte er geglaubt, von der Kälte erwacht zu sein. Die Hitze des Tages war nur noch eine ferne Erinnerung. Es hatte sich so sehr abgekühlt, dass sie gemeinsam unter seinen Umhang gekrochen waren.
Emerelle hatte darauf verzichtet, sich durch einen Zauber zu schützen, und mit ihm unter der Kälte gelitten. Vielleicht war es auch nur ein Vorwand gewesen, um neben ihm unter dem Umhang zu liegen. Zum ersten Mal, seit er im Gefängnis dieses fremden Körpers wieder zu Bewusstsein gekommen war, hatte er sich glücklich gefühlt. Bis zu dem Augenblick, als er erwachte.
Jenseits des verloschenen Feuers bewegte sich etwas. Sie hatten die Maiskolben aus den Opferschalen mitgenommen. In den letzten Tagen waren sie ihr einziger Proviant gewesen. Die Reste ihres Abendessens lagen etwa dort, wo sich der Schatten bewegte, im Sand.
In all den drei Tagen, die sie den Bergen am Horizont entgegengegangen waren, hatten sie nicht das Gefühl gehabt, verfolgt zu werden. Wer mochte das sein, der nun um das Lager schlich? Aus den Augenwinkeln sah Falrach eine zweite Gestalt. Ein Kobold?
Der Bidenhänder lehnte außer Reichweite an einem Felsen. Falrach verfluchte sich dafür, sich so weit entfernt von seiner Waffe zum Schlafen gelegt zu haben. Das große Schwert war das Letzte, an das er gedacht hatte, als Emerelle ihm erklärt hatte, dass sie mit ihm gemeinsam unter seinem Umhang schlafen wollte.
Die Gestalt bei den abgenagten Maiskolben blickte auf. Ihr Gesicht war weiß. Nein ...
Es war ein Totenschädel!
Das sind nur bemalte Gesichter. Die Stimme war in seinen Gedanken. Er wusste, dass Windsänger Tiere rufen konnten und in ihren Gedanken waren. Dass dies nicht nur für Tiere galt, war ihm neu. Das hieß also ...
Keine Sorge, ich kümmere mich nicht um das, was du über mich denkst.
Gerade tust du es aber, antwortete er in Gedanken. Im Übrigen hat einer der geschminkten Kobolde einen Speer in der Hand, der im Gegensatz zu den aufgemalten Totenschädeln ganz echt aussieht.
Im erloschenen Feuer loderte eine Stichflamme auf, die das Lager in taghelles Licht tauchte. Entsetzte Schreie erklangen. Falrach sah kleine Gestalten Hals über Kopf in die Sicherheit des Dunkels fliehen. Es waren mindestens zwanzig! Und er hatte nur zwei von ihnen bemerkt.
Emerelle stand auf. Sie ging zum Rand des Lichtkreises, den ihr Lagerfeuer in die Nacht schnitt. Sie bückte sich nach etwas. Dann sah sie wieder hinaus ins Dunkel. Eine unheimliche Macht ging von ihr aus. War sie jetzt in den Gedanken der Kobolde?
Falrach spürte, dass sie einen Zauber wirkte. Die Luft rings herum schien sich zu verändern. Es war etwas Neues in ihr. Etwas, das auf der Haut kribbelte, als hielten dort ganze Heerscharen von Ameisen eine Parade ab.