Aber Madra verharrte nicht ein einziges Mal. Er schien sich seiner Sache völlig sicher.
Die Nacht war angenehm kühl. Man konnte im Dunkel nicht erkennen, wo sie waren.
Aber der Troll hatte Recht. Es roch hier fremd. Trocken und staubig. Das Windland war sicher weit entfernt.
Wenn Elija ihn jetzt nur sehen könnte! Ein Lutin, der einen Troll ritt. Das hatte es noch nie gegeben. Alle würden ihn für einen Aufschneider halten, wenn er davon erzählte.
Es sei denn, sie brachten die Köpfe der beiden Mörder zu Skanga. Dann wäre sein Ruhm für alle Zeiten gefestigt. Sobald sie Rast machten, würde er alles in einem Tagebuch aufschreiben. Es für die Ewigkeit festhalten!
Nikodemus lächelte zuversichtlich. Sie konnten es schaffen. Wer einen Troll ritt, würde auch zwei Elfen zur Strecke bringen können.
Der Bewahrer der Ahnen
Der Kobold hatte zwei verschiedenfarbige Augen. Eines war gelb und das andere blau wie der Winterhimmel über der Snaiwamark. Falrach fand das beunruhigend. Und dass der Kobold seinerseits sie beide ganz augenscheinlich beunruhigend fand, machte es nicht besser. Er war mit einem jämmerlichen Speer bewaffnet, auf dem eine steinerne Spitze festgebunden war. Falrach hätte gelacht, wäre auf dem Stein nicht derselbe Schmier zu sehen gewesen wie auf den Pfeilen gestern Nacht.
Der Kobold reichte Falrach kaum bis zum Knie, und der drohend erhobene Speer zeigte direkt auf sein Gemächt.
Lächeln, erklang Emerelles Stimme in seinem Kopf. Sie schaffte es, überaus freundlich auszusehen. Aber auf sie war ja auch kein vergifteter Speer gerichtet.
»Warum seid ihr hierhergekommen, Riesen?« Der Kleine sprach einen recht ungewöhnlichen Dialekt. Ganz anders als die Kobolde, denen Falrach bisher begegnet war. Er konnte ihn besser verstehen!
»Wir sind Elfen, keine Riesen«, entgegnete er freundlich.
»Ihr seid viel zu groß für Elfen. Lüg mich nicht an! Es ist offensichtlich, was ihr seid.«
Auf den Felsen ringsherum stand mindestens noch ein Dutzend Kobolde. Einige von ihnen zielten mit ihren Bogen auf sie. Das Ganze erinnerte ihn an Feylanviek. Lag es an Emerelle, oder hatten sie einfach nur Pech?
Falrach hob beschwichtigend die Hände. »Wir haben wirklich keine bösen Absichten…«
»Ihr habt den Tribut für die Trolle aufgefressen. Das mögen die gar nicht!«
Er blickte zu Emerelle. Auch sie schien überrascht. Hier gab es keine Trolle! Aber er würde gewiss keinem Kobold widersprechen, der mit einem Speer geradewegs auf seinen Schritt zielte. »Ich entschuldige mich. Wie können wir ... «
»Wir könnten den Trollen erklären, dass ihr künftig keinen Tribut mehr zahlen werdet, weil euer Volk nun mit zwei Riesen befreundet ist«, mischte sich Emerelle ein.
Der Kobold senkte seinen Speer ein wenig. Er hatte ein von tiefen Falten durchzogenes Gesicht, auf dem rissige, weiße Farbe aufgetragen war. Sie ließ sein Antlitz wie einen Totenschädel erscheinen. Auch sein Oberkörper war wie ein Skelett bemalt. Allerdings schien der Kobold es mit der Anatomie nicht ganz genau zu nehmen. Auf seine Brust waren Schulterblätter gemalt. Auch Rippen und Wirbelsäule sahen aus wie von hinten betrachtet. Nur der Schädel stimmte. Seine Augen waren große dunkle Höhlen. Er hatte sich Ruß auf die Lider geschmiert, um diesen Eindruck noch zu verstärken. Die Nase passte so gar nicht in dieses Bild. Sie ragte wie ein Geierschnabel aus seinem Gesicht. Und die weiße Farbe auf ihr vermochte diesen Eindruck nicht zu mildern.
Um seine Hüften hatte der Kobold ein schmutzigrotes Tuch geschlungen. An einem dünnen Lederriemen hingen zwei kleine Kürbisflaschen. Er ging barfuß.
Die verschiedenfarbigen Augen fixierten Falrach. »Ihr wollt euch also ergeben?«
»Hast du schon einmal von Riesen gehört, die sich Kobolden ergeben?« Emerelles Stimme klang noch immer freundlich. »Vielleicht solltest du uns einfach zu den Ältesten bringen, und wir verhandeln mit ihnen.«
»Ich soll euch in mein Dorf bringen? Dafür würden mich die Ältesten in die Wüste jagen. Was ist, wenn ihr Kobolde fresst? Ich ... «
»Sehe ich aus, als nähme ich etwas wie dich in den Mund?« Sofort hob sich der Speer und zeigte wieder auf sein Gemächt. Offensichtlich hatte der Kobold keinen Sinn für Humor.
»Er meint es nicht so ...«, beschwichtigte Emerelle. »Was nicht heißt, er würde Kobolde fressen. Er wollte dich nur nicht beleidigen. Wie heißt du eigentlich?«
»Oblon, Bewahrer der Ahnen, Stimme der Toten, Wanderer an verbotenen Orten.«
»Ein stolzer Name«, sagte Emerelle anerkennend.
Oblon lächelte, was die Risse in der Farbe auf seinem Gesicht noch vertiefte.
»Wenn wir dir unsere Waffen geben, wirst du uns dann zu den Ältesten bringen?
Unter Freunden braucht man schließlich keine Waffen. Ich glaube, man würde die Geschichte von Oblon, dem Gefährten der Riesen, bald bei allen Stämmen erzählen.«
Trotz der Farbe konnte man ihm deutlich ansehen, wie er mit sich rang. Endlich nickte er. »Legt die Waffen nieder, und ich lade euch als Gäste in unser Dorf ein.« Er senkte den Speer erneut und winkte den Kriegern zwischen den Felsen. Zögerlich stiegen sie zu ihnen hinab.
Falrach nahm sein großes Schwert vom Rücken. Staunend sahen sich die Kobolde die Waffe an. Sie war mehr als doppelt so lang wie der Größte unter ihnen.
»Das nenne ich einen Trollschlächter«, flüsterte einer. Auch die anderen Waffen betrachteten sie mit größtem Respekt.
»Sie werden für uns kämpfen, wenn die Ältesten es wünschen«, verkündete Oblon in einem Tonfall, der Falrach nicht gefiel. Es hörte sich so an, als täten die Koboldgreise, die diesen Stamm beherrschten, ihnen einen Gefallen, sie gegen eine Horde in die Schlacht zu schicken.
»Nehmt die Waffen!«
Drei Kobolde waren nötig, um sein Schwert zu heben. Sie und die anderen Waffenträger liefen voraus und waren bald im unübersichtlichen Gelände verschwunden.
»Sie werden euer Kommen ankündigen«, erklärte Oblon. »Es wäre nicht gut, wenn ich plötzlich mit zwei Riesen inmitten unseres Dorfes erscheine.«
»Ist es weit?«, fragte Emerelle.
Oblon deutete auf die Berge. »Fast ein Tagesmarsch. Wir werden vor der Dämmerung eintreffen. Kommt.« Der Kobold legte ein strammes Marschtempo vor. Trotz der brü-
tenden Hitze machte er keine Pausen.
Bald schon fühlte sich Falrach völlig ausgelaugt. Sein Mund war trocken, seine Lippen fühlten sich zerklüftet wie Eichenborke an. Gegen Mittag hörte er auf zu schwitzen. Er hatte das Gefühl, dass das kein gutes Zeichen war. Schwindelanfälle plagten ihn.
Immer häufiger musste er sich an einen der heißen Felsen lehnen und kurz rasten.
Kopfschmerzen peinigten ihn fast so sehr wie die belustigten Blicke Oblons. Der Kobold hatte in der ganzen Zeit nicht ein einziges Mal aus seiner Wasserflasche getrunken.
Schweigend versuchte Emerelle ihm zu helfen, aber er war zu stolz, um sich auf sie aufzustützen. Von Zeit zu Zeit streichelte eine erfrischende Brise sein Gesicht, und Wohlgerüche linderten seine Kopfschmerzen. Er wusste, dass es ihr Werk war. Hätte sie eine kühle Quelle aus einem der Felsen hervorbrechen lassen können? Sie hatte die Macht dazu. Aber ihm war auch klar, warum sie es nicht tat. Oblon sollte nicht wissen, dass seine Riesin auch noch zaubern konnte. Also war es an ihm, zu leiden und dabei eine gute Figur zu machen, dachte er bitter und versuchte zugleich ein Lächeln. Er wollte dem Kobold nicht das Gefühl gönnen, sich überlegen zu fühlen.
Am späten Nachmittag führte sie Oblon in ein Bachbett hinab, das sich tief in den verdorrten Boden gegraben hatte. Es war trocken wie alles in dieser Einöde. Nur die etwas dichter stehenden, braunen Grasbüschel ließen vermuten, dass hier doch gelegentlich Wasser floss.
In weiten Kehren stieg das Bachbett sanft an; schließlich führte ihr Weg sie in eine Felsklamm, die so eng war, dass Falrach die Wände auf beiden Seiten berühren konnte, ohne seine Arme ganz auszustrecken.