Der Fels war von der Macht des Wassers spiegelglatt poliert. Mehr als zehn Schritt reichten die Steilwände in die Höhe. Sie zu erklimmen, war unmöglich. Kaum ein Lichtstrahl verirrte sich auf den Grund der Klamm, obwohl der Himmel über ihnen noch keine Spur von Abendrot zeigte.
Im Zwielicht war es schwer, seinen Weg durch das Geröll am Grund der Klamm zu finden. Bei allen Mängeln, die Ollowains Körper aufwies, besaß er doch ein ausgezeichnetes Gleichgewichtsgefühl. Falrach vermutete, dass es mit dem Schwertkampf zu tun hatte. Nicht ein einziges Mal strauchelte er auf dem schwierigen Grund.
Selbst Oblon war nun langsamer geworden. Obwohl er den Weg kannte, hatte auch er augenscheinlich Schwierigkeiten, auf dem trügerischen Grund einen sicheren Tritt zu finden. Nur Oblon war noch von den Kobolden übrig geblieben, die sie begleitet hatten. Selbst jene, die sich nicht mit Beutewaffen abschleppten und sie den Tag über begleitet hatten, waren weit hinter sie zurückgefallen.
Es herrschte eine angespannte Stimmung. Die Klamm verstärkte jeden Laut. Sein Keuchen und das Scharren der Steine unter ihren Füßen.
»Was für Trolle sind das eigentlich, mit denen ihr in Fehde liegt?«, fragte Emerelle unvermittelt. Ihre Stimme hallte dutzendfach gebrochen von den Felsen wider. »Wie sehen sie aus?«
»Sie sind groß. Ihre Haut ist grau. Sie sind grausam«, stieß Oblon keuchend hervor, ohne in seinem Marsch innezuhalten. »Sie fordern von allen Stämmen Tribut. Warum fragst du? Gibt es in deiner Heimat keine Trolle, Riesin? Alle wissen doch, wie Trolle sind. Sie sind die Geißel Albenmarks.«
Falrach fand die Beschreibung recht zutreffend. Aber er war zu müde, um noch irgendetwas zu sagen.
Plötzlich hielt Oblon inne. Fast im selben Augenblick erklangen über ihnen Hörner.
Falrach blickte auf. Hoch über ihren Köpfen waren am Rand der Klamm Felsbrocken zu losen Haufen geschichtet. Es war leicht, zu erkennen, welchem Zweck sie dienten.
Jetzt waren sie wirklich ausgeliefert. In der engen Schlucht gab es keinen Ort, der Schutz vor dem Steinschlag liefern würde. Wie hatten sie so dumm sein können, die Kobolde für einfältige Wilde zu halten!
»Würdet ihr hier ein wenig warten?«, sagte Oblon lächelnd.
Ein Seil fiel vom Klippenrand. Er schlang es sich um den Arm und wurde mit einem Ruck nach oben gezogen. »Stürzt die Felsen hinab!« Sein Befehl hallte durch die Klamm. Dann brach der Himmel hernieder.
Der Vater
Jules betrachtete seinen Sohn. Er lag zusammengerollt auf einem Strohsack dicht beim Feuer. Über dreißig Stunden schlief er jetzt schon. Adriens Fieber hatte nachgelassen, ohne dass er sich bemüht hatte, dem Jungen zu helfen.
Jules war sich nicht sicher, ob der Junge besonders dumm oder außergewöhnlich stolz war. Er hatte gegraben ... Die ganze Nacht hindurch und auch am folgenden Tag noch weit bis in den Mittag hinein. Jules hatte ihn beobachtet. Er hatte gesehen, wie oft der Junge gestrauchelt war, wenn er eine Schaufel der hartgefrorenen Erde aus der Grube hinaufwarf. Ihm war auch nicht verborgen geblieben, in welchem Zustand Adriens Hände waren.
An den Händen hatte er etwas getan, nachdem der Junge in tiefen Schlummer gesunken war. Er brauchte diese Hände noch. Er hatte Großes mit ihm vor. Und sollte sich herausstellen, dass sein Sohn stolz und nicht dumm war, dann würde er seinen Weg machen. Nicht wie die beiden anderen. Jules schnaufte ärgerlich. Sie hatten ihn so unendlich enttäuscht! Beim ersten war er überrascht gewesen, wie schnell er starb. Für ihn hatte er das Grab noch selbst ausgehoben. Ein Fehler, der ihm nicht wieder geschehen würde! Adriens letzter Ruheplatz war bereit.
Vielleicht sollte man das in ihre Ordensregel aufnehmen, wenn sein Plan letztlich glückte. Welchen Einfluss hätte es wohl auf junge Knappen, wenn sie früh in ihrer Ausbildung ihr Grab ausheben mussten? Würde es sie unempfindlicher gegen den Schrecken des Todes machen? Sich in Menschen hineinzudenken, fiel ihm schwer. Sie waren so sprunghaft... Genauso hatten sie werden sollen. Geschöpfe, die Gefallen daran fanden, ihre Welt zu verändern. Erfüllt von Ideen und dem Geist, sie umzusetzen. Aber dass sie so waren, machte es schwer, mit ihnen lang fristige Pläne zu schmieden. Pläne, die über Jahrhunderte reichten.
Jules hatte Michel Sarti nicht sonderlich gemocht. Er war ein Hurenbock und Trinker gewesen, mit einem Hang zur Grausamkeit. Aber manchmal hatte er ungewöhnliche Ideen. Wie ungeschliffene Diamanten. Es war seine Idee gewesen, einen kämpfenden Orden aufzustel en. Priester, die sich mit Waffen übten. Das war neu! Ritter, die sich ganz der Disziplin eines kirchlichen Ordens unterwarfen.
Jules hatte lange darüber nachgedacht. Die Idee war es wert, einige Versuche zu machen. Sah man von einigen wenigen Taten ab, hatte Michel Sarti nicht gerade ein vorbildliches Leben geführt. Sein Name war durchaus bekannt. Als Söldnerführer hatte er einige ansehnliche Erfolge erzielt. Und tatsächlich hatte er sich später verändert und zum Tjuredglauben gefunden. Aber das allein genügte Jules nicht. Da musste mehr sein! Er sah auf den schlafenden Jungen hinab. Ob Adrien dieses Mehr zu bieten hatte? Würde er sich bewähren? Der Junge war sein Sohn. Und war auf eine Weise begabt, die er sich nicht einmal vorzustellen vermochte. Wahrscheinlich würde er nicht so außergewöhnlich wie Guillaume werden. Vielleicht aber könnte er Guillaume rächen.
Jules nahm ein Scheit Holz und legte es ins Feuer. Er sollte etwas pfleglicher mit Adrien umgehen. Er mochte ein kostbares Werkzeug werden, wenn er ihn nicht durch sein Ungestüm zerbrach.
Der Priester sah zu der Tür hinüber, die er stets verschlossen hielt. Sollte er es wagen?
Nein, es war besser, wenn er hier war, falls Adrien erwachte oder das Fieber noch einmal zurückkehrte.
Jules lehnte sich in seinem schlichten, hölzernen Sessel zurück und schloss die Augen.
Er lauschte auf den Wind, den die Säulen unten im Tal zu melancholischen Liedern verführten. Er dachte an die Stadt, die dort einst gestanden hatte. An die sieben Könige. So viel Zeit war vergangen.
Der Priester rief sich zur Ordnung. Es war müßig, seine Gedanken an die Vergangenheit zu verschwenden. Was geschehen war, ließ sich nicht mehr ändern.
Nur die Zukunft zählte noch. Er konzentrierte sich auf die Spieltische, die wohl verborgen standen. Das Ende der Kämpfe um Emerelles Thron hatte ihn überrascht. Er hatte dieses Spiel verloren. Die Art, wie es geschehen war, wog seinen Ärger ein wenig auf. Es kam nicht mehr sehr oft vor, dass Elfen ihn überraschten.
Seit die Trolle auf Burg Elfenlicht eingezogen waren, hatte er zwei neue Fairachspiele aufgestellt. In beiden war Adrien als Spielfigur vertreten. Mit welchem Zug sollte er diese Spiele eröffnen?
Das Königsgrab
Kadlin blickte entsetzt zu der Insel hinab, die im Talsee unter ihnen deutlich zu erkennen war. Sie hätte nicht dort sein dürfen. Sie hatte sich den Ort genau beschreiben lassen. Die Insel hätte in den Fluten versunken sein müssen. Als die geschlagenen Fjordländer sich nach der Schlacht bei der Nachtzinne zurückziehen mussten und sie Sorge hatten, die Trolle könnten sie stellen, hatten sie den Leichnam des Königs zurückgelassen. Diese Insel dort unten im Tal hatten sie ausgewählt. Es konnte keinen Zweifel geben! Jetzt erkannte Kadlin auch den Eingang zu der Höhle, die zum Königsgrab geworden war.
Ulric, Halgard, Lambi und die anderen hatten den König in der Höhle beigesetzt. Und dann hatten sie das Wasser des Sees angestaut, damit die Insel in den steigenden Fluten versinken konnte. So sollte das Königsgrab verbor gen bleiben, bis Norgrimm, der Gott der Schlachten und Krieger, ihnen zulächelte und sie siegreich ins Land der Trolle zurückkehren würden.
Sie blickte zu Melvyn. Ihr Halbbruder hatte sein selbstsicheres Lächeln verloren.
Unruhig sah er sich um. Er hatte ihr zugeredet, dass es möglich war, Alfadas zurückzuholen. In ihrer Hütte hatte alles ganz einfach geklungen.
Alle Bäume auf der Insel waren von einem dicken Eispanzer überzogen. Es konnte keinen Zweifel daran geben, dass die Insel tatsächlich in den Fluten des Sees versunken war.